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Wer hat Angst vorm „Brexit“?

Banken, Unternehmen und Politiker warnen eingehend vor einem Brexit. Mancher Finanzlobbyist glaubt jedoch, dass der Austritt Großbritanniens aus der EU dem Finanzplatz Frankfurt einen Schub verleihen könnte.

An den Börsen und in der Politik ist die Angst vor einem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union groß. Für den Finanzplatz Frankfurt hätte der „Brexit“ dagegen zumindest kurzfristig positive Auswirkungen. Geschäfte und Arbeitsplätze der Banken könnten dann von der Themse an den Main verlagert werden. „Ein 'Brexit' wäre für Frankfurt das größte Geschenk seit der Stadtgründung“, frohlockt ein hochrangiger deutscher Finanzmanager.

Mittel- und langfristig würde eine Abkopplung Großbritanniens Europa und seinen Finanzmarkt aber schwächen, warnen Experten und Banker unisono. Und das würde früher oder später dann auch „Mainhattan“ zu spüren bekommen. Der kurzfristige Aufschwung, den die Verlagerung von notwendigen Geschäftsvorgängen für Frankfurt brächte, würde bald konterkariert von der Schwächung des gesamten europäischen Finanzmarktes. Die Mainmetropole hätte dann doppelt verloren: die zusätzliche Wirtschaftskraft verlöre sich schnell, und die Krise, in die die gesamte europäische Wirtschaft stürzen würde, käme erschwerend dazu.

Massive Pro-Europa-Kampagne aus den USA

Mehrere US-Großbanken, die ihren Europa-Sitz in London haben, fürchten offenkundig, dass ihre Geschäfte in der EU bei einem „Brexit“ leiden werden. Wie die Nachrichtenagentur AFP aus informierten Kreisen erfuhr, hat die Investmentbank Goldman Sachs bereits hunderttausende Pfund an die Initiative „Britain Stronger in Europe“ gespendet.

Die Initiative, die sich für einen Verbleib Großbritanniens in der EU einsetzt, wurde im Oktober von dem Geschäftsmann und früheren Chef der Kaufhauskette Marks & Spencer, Stuart Rose, gegründet. Wie es an der Wall Street heißt, könnten bald auch die US-Finanzinstitute JP Morgan Chase, Bank of America und Morgan Stanley folgen. Nur die Citigroup plant demnach nicht, die britischen EU-Befürworter finanziell zu unterstützen. Von der Londoner City aus können die US-Banken in allen EU-Ländern ohne spezielle Lizenz tätig sein – ein Privileg, das bei einem „Brexit“ wegfallen dürfte. „Das wird die Aktivitäten durcheinanderwirbeln“, sagte ein US-Banker. Die Tür zu einem Markt mit 500 Millionen Menschen würde geschlossen. Außerdem müssten wohl bestehende Verträge mit Kunden neu ausgehandelt werden.

Die US-Finanzinstitute, die in London rund 40.000 Menschen beschäftigen, müssten sich einen neuen Standort für ihre in Euro abgewickelten Geschäfte suchen. Das ist bislang aus Großbritannien möglich, auch wenn das Land nicht der Gemeinschaftswährung angehört. Der erzwungene Umzug in den Euroraum würde auch bedeuten, dass die US-Banken bei der Europäischen Zentralbank (EZB) Rechenschaft ablegen müssen.

Die Briten könnten schon in diesem Sommer ernstmachen

Premierminister David Cameron will die Briten über die Mitgliedschaft des Landes in der EU abstimmen lassen. Das Referendum findet möglicherweise bereits im Sommer statt, in jeden Fall aber bis Ende 2017. „Ein 'Brexit' würde dem Finanzplatz Frankfurt kurzfristig einen Schub verleihen“, sagt Lutz Raettig, Frontmann der Branchenvereinigung Frankfurt Main Finance, der Nachrichtenagentur Reuters. „Ich gehe davon aus, dass sich dann noch mehr Unternehmen aus der Versicherungs- und Bankenbranche in Frankfurt niederlassen würden, schließlich sind hier bereits ihre Aufsichtsbehörden beheimatet.“ Sowohl die Europäische Zentralbank als auch die Versicherungsaufsicht Eiopa haben sich am Mainufer niedergelassen.

Schon heute beschäftigen Finanzinstitute in Frankfurt über 60.000 Mitarbeiter. Raettig ist Aufsichtsratchef von Morgan Stanley in Deutschland und Vorsitzender des Börsenrats der Frankfurter Wertpapierbörse. Er erwartet, dass bei einem „Brexit“ einige Geschäfte von London abwandern, besonders im Euro-Devisenhandel. „Davon würde unter anderem die Deutsche Börse profitieren. Die meisten Finanzmarktgeschäfte, die derzeit in London getätigt werden, können grundsätzlich auch von Frankfurt aus gemacht werden.“

Die Frage ist nur, wie stark der Euro-Devisenhandel durch eine Abkühlung der Wirtschaft zurückgehen würde. Und dies Frage wagt kaum einer der Experten zu beantworten. Angst vor dem „Brexit" haben, so scheint es, alle, die ein wenig genauer nachdenken. Schon seit langem geistert das Wort durch Europa, dass ein möglicher „Brexit" eine weit größere Gefahr ist, als es der vielzitierte „Grexit" jemals war. Handelsblatt / rtr / sig

29.01.2016 | 20:03

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