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Brasilien geht in die Offensive

Das südamerikanische Land ist mehr als Fußball, Samba und Karneval – es ist auf dem Weg zur Weltmacht. Die Nation ist gewaltig und gewaltig im Aufbruch. Aus dem einstigen Armenhaus ist ein Aufsteiger geworden. Brasilien hat Probleme, aber enorme Potenziale. Und die WM wirkt wie ein Konjunkturschub.

Für die Fußball-WM ist alles gerichtet. Dabei mutmaßten ausländische Journalisten bis vor Kurzem, dass die Stadien nicht fertig würden. Doch die wussten nicht, dass deutsche Ingenieurskunst am Werke war. Und so wird die Welt großen Fußball in sensationellen Bauten erleben. Vom Stahlträgerdach bis zu den kleinen Torkameras haben die Deutschen kräftig mitgewerkelt. Braunschweiger Architekten bauten das Stadiondach von São Paulo, und im Nationalstadion von Brasília verwantworteten Stuttgarter Ingenieure mit Berliner Architekten den tragenden „Stützenwald“ und die Esplanade, auf der das Stadion steht. Im Regenwald von Manaus konzipierten die deutschen Stadion­spezialisten die Multifunktionsstätte „Arena da Amazônia“. Die Fassade besteht aus einem Stahlgestänge mit einer Ummantelung aus Glasfasergewebe, das ein Unternehmen aus dem nordrheinwestfälischen Greven gefertigt hat. Während Pläne der Berliner gmp-Architekten am Stadion von Belo Horizonte umgesetzt wurden, bauten die Stuttgarter Ingenieure von sbp am legendären Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro mit.

Das Maracanã ist der Fußballtempel schlechthin – und Brasilianer sagen, dass bei Endspielen selbst die steinerne Cristo-Statue den Blick heimlich dorthin wendet (man muss nur dran glauben). Und in diesem legendären Stadion von Rio sitzen die 78 000 Zuschauer auf Sitzen einer Möbelfirma aus dem schwäbischen Öhringen. Für die WM-Stadien in Curitiba und Recife hat ein Unternehmen aus dem fränkischen Wilhermsdorf jeweils mehr als 40 000 Stühle geliefert.

Stadiondach vom Chiemsee

In Rio ging es für die deutschen Ingenieure vor allem um die Dachkonstruktion. Wie schon beim Stadion in Brasília verwendeten die Erfinder das „Speichenradprinzip“. Die Grundidee ist die gleiche wie beim Fahrrad: Zwischen einem oder mehreren äußeren Druckringen und einem Mittelelement werden Speichen gespannt. Um daraus ein Dach zu gestalten, wird darüber eine robuste Zeltplane angebracht, auch Membran genannt, die beim Maracanã von einem deutschen Unternehmen aus Bernau am Chiemsee kommt. Und sie kam rechtzeitig.

Und so konnte alle Welt einmal mehr erleben, dass Brasilia­ner manchmal spät kommen, dann aber gewaltig. Das gilt für Brasilien, ja auch für Lateinamerika als Ganzes. Für Jahrzehnte galt der Kontinent als träge, verschlungen und mäandernd, wie ein Nebenarm des Amazonas. Ein „verlorenes Jahrzehnt“ schien sich ans andere zu reihen, und immer wieder wurden die Lateinamerika-Optimisten enttäuscht, die die gewaltigen Ressourcen erkannten und ihrer Mobilisierung harrten. China brach auf, Indien auch, halb Asien hinterher. Doch Brasilien blieb ein schlafender Riese. Lange, aber nicht für immer. Seit einigen Jahren bewegt sich der Riese, und zwar mächtig.

Die Währungsreform des „Plano Real“ von 1994 unter Präsident Fernando Henrique Cardoso, die folgenden Schuldenverhandlungen, Privatisierungen und Bankensanierung schufen in den 90er-Jahren die Basis für einen neuen Wachstumszyklus. Der danach zum Präsidenten gewählte Arbeiterführer Luiz Inácio ­Lula da Silva hat die konservative Geld- und Haushaltspolitik seines Vorgängers fortgesetzt und durch eine Verteilungspolitik für die Armen ergänzt. Denn Lula wusste, dass Wachstum mit Inflation gerade den Unterprivilegierten Brasiliens schadet. Das brasilianische Wirtschaftswunder begann, und das Land lenkte sein Übermaß an Glauben endlich einmal auf sich selbst.

Während die Industrieländer stagnierten und sich von Krise zu Krise schleppten, wuchs Brasiliens Wirtschaft seit den 90ern so kräftig und nachhaltig, dass das Land zur sechstgrößten Volkswirtschaft der Welt aufstieg. Die knapp 200 Mio. Einwohner erlebten dabei einen Wohlstandsgewinn ohne Beispiel. Fast 50 Mio. Brasilianer wurden aus der Armut befreit und die Einkommensungleichheit – die nach wie vor hoch ist – nahm deutlich ab. Heute ist eine neue Mittelstandsgesellschaft nach europäischem Format entstanden.

Die enormen Rohstoffvorkommen, die gewaltige Agrarwirtschaft und die wachsende junge Bevölkerung und ihre Bildungsrevolution gaben dazu den Anstoß. Wichtigste Exportgüter Brasiliens sind zwar noch Rohstoffe (Eisenerz, Kupfer, Öl) und landwirtschaftliche Erzeugnisse (Sojabohnen, Kaffee, Zucker). Doch die Industrieproduktion folgt. Und durch die Erschließung der 2008 entdeckten umfangreichen Rohöl- und Erdgasvorkommen an der südöstlichen Atlantikküste könnte Brasilien sogar zu einem der wichtigsten Erdölproduzenten weltweit aufsteigen. Die sportlichen Großereignisse, die FIFA-WM 2014 und die Olympischen Spiele 2016, sind darum so etwas wie die Party zur Beförderung des Landes in die erste Liga der Welt.

Und doch ist Brasilien mit den Boomjahren innerlich unter Spannung. Die sozialistische Regierung hat es mit der Staatsintervention übertrieben, vernachlässigt zuweilen die Infrastruktur und die solide Haushaltspolitik. Die einseitige Konzentration auf Konsum erweist sich als nicht ausreichend. Und die Inflationsraten stiegen wieder auf ein Maß, das den neuen Mittelstand im Land belastet. Und so kommt es ausgerechnet rund um die Fußball-WM zu Massenprotesten in der heilen brasilianischen Welt.

Proteste gegen korrupte Linke

Was zunächst so ausgesehen hat wie Attac und Occupy, also nach einer nächsten Welle antikapitalistischer Revoluzzerflut, erweist sich bei näherem Hinsehen als etwas ganz Überraschendes: Hier demonstrieren weder Gewerkschaften noch linke Gruppen, keine Kapitalismus- oder Börsenhasser, keine Sozis, Spontis und auch keine Arbeiterkampfgruppen. Es ist just der neue junge Mittelstand Brasiliens, der auf die Straße geht. Und er protestiert nicht gegen den Kapitalis­mus, Konzerne oder Banken – sondern gegen eine sozialistische Regierung. Der korrupte, von linken Politikern zur Beute genommene Staat und seine unfähige Bürokratie entfachen die Wut des neuen, selbstbewussten Bürgertums.

Tatsächlich regiert in Brasilien seit mehr als zehn Jahren der
PT – Partido dos Trabalhadores (Arbeiterpartei). Das Symbol ist der fünfzackige rote Stern, die Leitlinie ist das sozialistische Ideal eines umfassenden Etatismus. Präsidentin Dilma Rousseff stammt aus der marxistisch-leninistischen Guerilla-­Organisation VAR Palmares, die einst gegen die Militärdiktatur kämpfte. Heute sucht sie ihr Heil im „demokratischen Sozialismus“. Doch der Sozialismus der PT ist weniger demokratisch als vielmehr korrupt. Die linken PT-Netzwerke haben einerseits ein politisches Genossensystem mit weiträumigen Vetternwirtschaften, Begünstigungen und Stimmenkäufen eingerichtet: Die Regierung zahlte Abgeordneten der verbündeten Parteien sogar monatliche Beträge, damit sie wichtige Abstimmungen nicht blockierten.

Dieses Bestechungssystem, „Mensalao“ genannt, ist inzwischen aufgeflogen und Keim der Wut gegen die roten Machthaber. Andererseits hat die PT-Regierungsclique den von ihr kon­trollierten Staat immer dreister in die Taschen seiner Bürger greifen lassen, die Steuern und Gebühren (bis hin zum Busticket) allenthalben erhöht, dafür aber nur eine dürftige Gegenleistung an Infrastruktur und öffentlicher Dienstleistung geboten. Das Ausmaß der PT-Korruption, die den Staat zusehends zum Selbstbedienungsladen linker Parteien gemacht hat, zeigte sich im Bundesstaat Parát und an der illegalen Genehmigung für das Fällen von gewaltigen Mengen Regenwaldholz durch Mitglieder der PT. Die Einnahmen und die Gegenleistungen der Begünstigten wurden wiederum dazu benutzt, PT-Kandidaten im Wahlkampf zu helfen.

Schulen sind in trostlosem Zustand

Nun wehrt sich der Mittelstand, dass er mit Steuerlasten ausblutet und dafür vom Staat miserable Lebensbedingungen zugemutet bekommt. Straßen, Krankenhäuser und Schulen sind in trost­losem Zustand, und auch die innere Sicherheit – eine klassische Forderung der bürgerlichen Mitte – wird von der linken Regierung systematisch missachtet. Unter dem Druck der Massenproteste des Mittelstands bewegt sich der Apparat in Brasilia nun ein wenig.

Und so hat die Protestbewegung ihr Gutes, denn sie stärkt die Zivilgesellschaft. Während China sowie Russland oder die arabischen Staaten ihren Aufstieg mit repressiven politischen Systemen bewerkstelligen, setzt Brasilien bei allen inneren Konflikten ganz auf Demokratie. Das Land wird geradezu zu einem Testfall der globalen Demokratiebewegung. Im größten Land Lateinamerikas entscheidet sich, ob einer großen, aufstrebenden Volkswirtschaft der Sprung zur Großmacht auch als Demokratie gelingen wird. Das ist für die Zukunft des westlichen Gesellschaftsmodells von einiger Bedeutung: Denn im globalen Wettbewerb kommt das demokratische Staats- und Wirtschaftsmodell zunehmend unter Druck. Beweisen die Erfolge Russlands und Chinas nicht gerade, dass autoritäre Wirtschaftsmodelle der westlichen Marktwirtschaft mit ihren schwerfälligen Regeln überlegen sind?

Die deutsche Industrie nutzt ihre Chancen in Brasilien schon lange. São Paulo ist der größte deutsche Industriestandort außerhalb Deutschlands. Die rund 1 300 ansässigen deutschen Firmen sind ein wesentlicher Faktor der brasilianischen Wirtschaft. Brasilien ist zudem Deutschlands größter Handelspartner in Lateinamerika. Konzerne wie Siemens, Bayer, ThyssenKrupp, VW, MAN und Mercedes (Lkw) sind schon seit vielen Jahrzehnten vor Ort.

Die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Spiele 2016 sorgen in Brasilien für neue Investitionen in Milliardenhöhe – und bescheren der deutschen Wirtschaft dicke Aufträge. Nach Berechnungen des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) ist ein Volumen von rund 5 Mrd. Euro für deutsche Unternehmen möglich. „Das Gesamtvolumen an Aufträgen betrug bei der Olympiade in London rund 12 Mrd. Euro, in Brasilien sind es bei den beiden sportlichen Groß­ereignissen zusammen rund 45 Mrd. Euro“, sagte DIHK-Außenwirtschaftschef Volker Treier. Mit Aufträgen über 5 Mrd. Euro könnten rund 50 000 Arbeitsplätze geschaffen oder gesichert werden, sagte Treier. Auch die deutschen Investitionsgüter-Hersteller und Maschinenbauer suchen neue Chancen. Denn derzeit läuft in Brasilien ein gewaltiges Investitionsprogramm für die Infrastruktur an: Häfen, Straßen, Schienenwege, Kraftwerke, Raffinerien, Stromnetze und Pipelines für Gas, Ethanol und Öl sollen gebaut werden. All diese Projekte bieten Chancen für deutsche Konzerne, die noch einen anderen Standortvorteil in Brasilien genießen. Das Netz der Beziehungen zwischen Deutschen und Brasilianern ist extrem dicht geflochten. Und die Deutschen sind besonders willkommen – nicht nur fußballerisch.

Die Einladung der Cristo-Statue

Auch das kann man beim genauen Blick auf die Cristo-Statue von Rio lernen: die Gastfreundlichkeit Brasiliens. Der Stil mag imperial sein. Die Geste aber ist offen und gütig, sie ist einladend und ihr kann nur die Umarmung folgen. Ganz in der Früh und am Abend, wenn die Sonne tief steht, erkennt man den doppelten Charakter des Bauwerks, denn dann verwandelt sich in der blauen Stunde der imperiale Gestus vollends in ein Schattenkreuz, ein Symbol des Leids und der Demut, um wenige Minuten später in Kraft und Freude umzuschlagen. Und wenn man die Statue im Sonnenlicht lange beschaut, dann sieht man es – sie lächelt und ist lebensfroh. Das glauben Sie nicht? Dann sind sie kein Brasilianer!

06.06.2014 | 19:32

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