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Vizekusen? Bloß nicht!

Von zweiten Plätzen hat man in Leverkusen eigentlich genug. Der Traditionskonzern Bayer aber will unbedingt einen erobern, nämlich den hinter Johnson&Johnson aus den USA. Eine entscheidende Rolle spielt dabei der zweitgrößte Zukauf der Unternehmensgeschichte: Volle zehn Milliarden Euro zahlt Bayer an Merck&Co., um seine Position im Geschäft mit rezeptfreien Arzneimitteln zu stärken.

In Deutschland kennt fast jeder den Chemiekonzern Bayer aus Leverkusen, nicht zuletzt wegen des Sponsorings für den gleichnamigen Werksklub. Das Unternehmen steht für Produkte aus den Bereichen Pharmazie, Agrarwirtschaft und High-End-Werkstoffe. Darunter fallen auch Marken wie Aspirin und Alka-Seltzer, ein schmerzstillendes Arzneimittel. In allen Geschäftsbereichen betreibt die Bayer AG aktive Forschung und hat weltweit zirka 67.400 Patentanmeldungen und Patente. Pro Jahr kommen 6.500 neue dazu, die Laufzeit beträgt jeweils zwanzig Jahre. Besonders öffentlichkeitswirksam ist die Entwicklung neuer Medikamente in der Krebs-, Herz- und Diabetesforschung..

Zuletzt waren die Schlagzeilen dazu eher negativ. Die Äußerungen des Vorstandsvorsitzenden Marijn Dekkers bezüglich des Krebsmittels „Nexavar“ riefen zum Beispiel kritische Stimmen von „Ärzte ohne Grenzen“ auf den Plan. Der Hintergrund: Die indische Regierung zwang Bayer dazu, Nexavar über ein indisches Unternehmen zu verkaufen -  das nur einen Bruchteil des Originalpreises von den Patienten verlangt. Dekkers nannte das Vorgehen in einer Diskussionsrunde Diebstahl. Den Indern aber nutzt es zunächst einmal, schließlich wird zum Beispiel die Behandlung von Nieren- und Leberkrebs wesentlich günstiger. Langfristig gefährden solche Prozesse aber die Forschungsbemühungen der Großkonzerne, vor allem wenn die Billigproduzenten der Schwellenländer ins Ausland verkaufen. Generell ist die Pharmaindustrie schnell als Schuldiger ausgemacht, wenn im Gesundheitswesen Probleme auftreten. Tendenz: Risiko.

Bislang geht es Bayer aber noch ausgezeichnet. Im ersten Quartal 2014 zählte die Unternehmensfamilie 114.900 Mitarbeiter weltweit, 2013 waren es noch 113.200. Doch nicht nur die Belegschaft wächst: Stolz präsentierte die Konzernleitung Ende April die aktuellen Zahlen für das abgelaufene Geschäftsjahr. Der Umsatz kletterte um 5,1 Prozent auf 40,2 Milliarden Euro, der Gewinn erreichte 3,2 Milliarden. Damit liegt Bayer voll im Trend der Pharmabranche, denn die letzten Jahre waren insgesamt eine Zeit des Booms. Die neue Bestmarke war ein willkommenes Geschenk zum 150. Firmenjubiläum, aber noch nicht genug: „Wir wollen unsere Wettbewerbsposition als Innovationsunternehmen von Weltrang weiter ausbauen“, sagte Dekkers bei der Präsentation. Und Raum für Innovationen ist in allen Geschäftsbereichen: Bayer HealthCare forscht nach Medikamenten, die Abteilung CropScience muss zum Beispiel Alternativen zu hochgiftigen Insektiziden suchen. Die Begeisterung für Fußball kommt bei MaterialScience zum Tragen. Seit 1986 stellt Bayer nämlich in Kooperation mit adidas die Spielbälle für FIFA WM und UEFA EM her – heuer ist es der Brazuca. Dekkers ermunterte den Vorstand allerdings zuletzt, sich von dieser Sparte zu trennen, sie sei zu stark konjunkturabhängig. Alles in allem beläuft sich die Marktkapitalisierung von Bayer auf über 80 Milliarden Euro. Das reicht für Platz drei der DAX 30.

Mit dem OTC-Geschäft an die Weltspitze


Auch für das laufende Geschäftsjahr darf nach eigenen Angaben mit einer erneuten Steigerung von Umsatz und Ergebnis gerechnet werden. Die Umstrukturierungsmaßnahmen, die Werner Wenning bereits begonnen hatte, setzte sein Nachfolger Marijn Dekkers konsequent fort. Als er 2010 aus Boston nach Leverkusen zog, hatte er einen klaren Auftrag erhalten: Portfoliomanagement zu betreiben und somit die Marktposition von Bayer zu verbessern. Vor wenigen Tagen konnte Dekkers endgültig Vollzug melden: Für über zehn Milliarden Euro erwirbt der Konzern eine Sparte des US-Unternehmens Merck & Co. Genauer gesagt geht es um den Bereich der rezeptfreien Medikamente und Gesundheitspräparate, auch OTC (over the counter)-Arzneimittel genannt. Diese sind zwar apothekenpflichtig, gehen aber ohne Rezept „über die Ladentheke“. Dekkers bestätigte die zweitgrößte Übernahme der Unternehmensgeschichte am Dienstag und erklärte, sie sei ein „bedeutender  Meilenstein auf unserem Weg zur angestrebten globalen Marktführerschaft“ im Bereich rezeptfreien Bereich. Dieser ist für Bayer besonders interessant, weil weniger risikoreich. Durch den Deal winkt nicht nur die Spitzenposition in Nord- und Lateinamerika, sondern auch Platz zwei weltweit hinter dem amerikanischen Konkurrenten Johnson & Johnson. „Wir stärken Umfang und Ertragskraft unseres Consumer-Care-Geschäfts, das schon jetzt hohe Margen und stabile Cashflows erzielt, ganz erheblich“, betonte Dekkers.

Bleibt noch die Frage der Finanzierung, und gerade die ruft Zweifler auf den Plan. Das Leverkusener Unternehmen will den Erwerb mit einem Brückenkredit zwischenfinanzieren. Zehn Milliarden auf Kredit? Für die Ratingagenturen Moody’s, S&P und Fitch bedeutet das, Bayer kritischer zu beurteilen. Die finanzielle Flexibilität sei dadurch stark eingeschränkt, trotz der langfristigen Potentiale gibt es also Grund zur Skepsis. Die Genehmigung der Kartellbehörden für den Deal steht noch aus, der Abschluss der Transaktion ist für das zweite Halbjahr 2014 angesetzt.

Für die Investoren des DAX-Stars gibt es aber generell ständig gute Nachrichten. Unterm Strich war die Analystenhaltung seit Anfang 2012 durchweg positiv. 2013 erzielte die Aktie der Bayer AG gar ein Plus von 45 Prozent und lag damit weit über dem DAX-Durchschnitt. Derzeit beläuft sich der Wert des Papiers auf knapp über 100 Euro, das sind nur vier Euro weniger als der historische Höchststand von Mitte Januar 2014. Grund für Optimismus, befand die Konzernleitung und schlug eine Erhöhung der  Dividende um 0,20 Euro auf 2,10 vor.

Während es sportlich für Bayer Leverkusen nicht nach Spitze aussieht, strebt der Sponsor der Werkself weiter nach ganz oben. Der Deal mit Merck ist ein großer Schritt in diese Richtung, muss aber mit den gegebenen Risiken betrachtet werden. Marijn Dekkers wird der große Zuspruch bei der Hauptversammlung jedenfalls in seiner Strategie bestätigen. Nach und nach wird der „Vizekusen“-Mythos also getilgt, auf die ein oder andere Art zumindest.

Marius Mestermann

12.05.2014 | 09:28

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