Sieht weiterhin Potential für eine Systemkrise in China: Gerhard Winzer, Chefvolkswirt Erste Asset Management (Bild: Erste Asset Management).



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„In Kontinentaleuropa ist die Aktienkultur mangelhaft“

Im Interview mit der BÖRSE am Sonntag spricht Gerhard Winzer, Chefvolkswirt Erste Asset Management, über Inflationsrisiken im nächsten Jahr, erklärt, warum die EZB nicht eingreift, Deutsche wie Österreicher trotz Niedrigzinsumfeld Aktien scheuen und wieso eine mögliche Systemkrise in China noch nicht vom Tisch ist.

BÖRSE am Sonntag: Sparer haben Angst um ihr Geld – Sie auch?

Gerhard Winzer: Die Zinsen liegen bei null Prozent. Bereinigt um die Inflation, ist die reale Verzinsung deutlich negativ. Auch wenn die Europäische Zentralbank die Leitzinsen in den kommenden Jahren anheben sollte, wird die Realverzinsung wahrscheinlich negativ bleiben. Auch traditionelle Sparer werden in Anlageformen gedrängt, die eine höhere Verzinsung als Sparbücher oder deutsche Staatsanleihen versprechen (z.B., Aktienfonds).

Unterschätzt die Europäische Zentralbank (EZB) die Inflation?

Derzeit prognostiziert die EZB für das nächste Jahr eine Inflation von 1,7% p.a. und für das übernächste Jahr von 1,5%. Beim Ratstreffen im Dezember werden diese Werte wahrscheinlich nach oben angepasst werden. Die Inflationsentwicklung liegt in diesem Jahr deutlich über den Prognosewerten von Anfang 2021. Dennoch werden im wahrscheinlichsten Szenario die derzeit hohen Inflationsraten im Laufe des nächsten Jahres sinken, weil die meisten Inflationstreiber auf Engpässe zurückzuführen sind, die in der Jahresvorschau abnehmen werden. Natürlich gibt es Inflationsrisiken, die auch der Zentralbank bewusst sind.

Wie hoch wird die Inflation künftig ausfallen?

In der Eurozone liegt der Durchschnitt der Inflation von Anfang 2010 bis 2021 bei rund 1,3% im Jahresabstand. Im Oktober 2021 lag die Inflationsrate bei 4,1% p.a. Für das vierte Quartal 2022 erwarten wir eine Inflationsrate von 1,3% p.a. Langfristig betrachtet wird in unserem wahrscheinlichsten Szenario die Inflation bei rund 2% p.a. liegen. Das entspricht dem Ziel der EZB. Für die im Vergleich zur Vergangenheit höhere Inflationsentwicklung gibt es drei Gründe: Erstens hat China in den vergangenen 20 Jahren die Güterpreise nach unten gedrückt. Dieser Effekt könnte abnehmen. Zweitens schrumpft die arbeitsfähige Bevölkerung in immer mehr Ländern, wodurch das Lohnwachstum ansteigen könnte. Langfristig betrachtet ist Letzteres die wichtigste Bestimmungsgröße für die Inflation. Drittens werden in absehbarer Zeit auch die Preise für selbstgenutztes Wohneigentum in der Inflationsberechnung berücksichtigt werden.

Warum greift die EZB nicht ein?

Das hat zwei Gründe. Erstens befindet sich die Wirtschaft in der Zyklusphase „(holprige) Erholung“ und nicht in einem „Boom“. Wenn die EZB gezwungen wäre, aufgrund der hohen Inflationsraten jetzt die Leitzinsen anzuheben, würde die Erholung beeinträchtigt oder sogar gestoppt werden. Die Pandemie hat auf globaler Ebene Engpässe in der Produktion und im Transport erzeugt. Denn die Nachfrage nach Gütern hat stark zugenommen. Die Energiepreisanstiege haben mit einer unterdurchschnittlichen Lagerhaltung bei Erdgas und einer niedrigen Investitionstätigkeit für neue Förderanlagen zu tun. Zweitens werden die aktuell hohen Inflationsraten von der EZB als vorübergehend eingeschätzt. So lange die langfristigen Inflationserwartungen der Konsumenten, Unternehmen, Marktteilnehmer und Volkswirte bei rund 2% p.a. verankert bleiben, ist der Druck unmittelbar mit Leitzinsanhebungen auf hohe Inflationsraten zu reagieren niedrig. Das gilt im Unterschied zu Zentralbanken in Ländern mit einer negativen Inflationsvergangenheit wie Brasilien. Dort wurden die Leitzinsen bereits kräftig erhöht.

Wann kommt die Zinswende?

Die Inflationsprojektionen der EZB liegen unter dem symmetrischen Inflationsziel von 2%. Wenn diese Einschätzungen auf das Inflationsziel nach oben revidiert werden, sind die Voraussetzungen für eine Leitzinsanhebung gegeben. Im Basisszenario könnte die EZB im Jahr 2023 die Negativzinspolitik beenden.

Das Gesamtvermögen der österreichischen und deutschen Haushalte eilt von Rekord zu Rekord. Weil viele Verbraucher seit der Corona-Krise wieder mehr Geld auf dem Girokonto und auf gering verzinsten Sparkonten bunkern, verliert ihr Vermögen stetig an Wert. Warum scheuen trotzdem so viele Menschen den Aktienmarkt?

In Kontinentaleuropa ist die Aktienkultur mangelhaft. Langfristige Tendenzen werden in der Wahrnehmung oft von täglichen, wöchentlichen und jährlichen Kursschwankungen verdeckt. Anders ausgedrückt steht der spekulative Charakter oftmals im Vordergrund. Das wirkt für risikoaverse Investoren abschreckend.

Einige Experten fordern, dass die Politik reagieren und zum Beispiel Reformen der staatlich geförderten und kapitalgedeckten Altersvorsorge umsetzen müsse. Wie stark sollte der Staat jetzt eingreifen?

Der Anteil der Rentenbezieher in Relation zur arbeitenden Bevölkerung wird in den kommenden Jahrzehnten deutlich zunehmen. Das Finanzministerium wird deshalb einen immer größeren Anteil der Steuereinnahmen für Rentenzahlungen verwenden müssen. Für die Lösung dieses Problems ist ein höherer Anteil der kapitalgedeckten Altersvorsorge ein zentraler Bestandteil. Der Reformstau ist auch in diesem Bereich groß.

Gleichzeitig ist das Bewusstsein für Aktien insbesondere bei den jüngeren Generationen gestiegen. Sehen Sie Anfänge einer neuen Aktienkultur?

Generell ist durch die neuen Technologien der Zugang zum Kapitalmarkt erleichtert worden. Tendenziell ist die jüngere Generation technikaffiner. Allerdings scheint der spekulative Charakter zu dominieren. Die finanzielle Allgemeinbildung ist mangelhaft geblieben.

Wenn wir von neuen Investmentkulturen reden – wie sehen Sie nachhaltige Investments?

Das Segment der nachhaltigen Investmentfonds hat in der Erste Asset Management im November 2021 mit einem veranlagten Volumen von über 14,3 Mrd. Euro, und damit fast 20% unserer Assets under Management, weiter an Bedeutung gewonnen. Die im März in Kraft getretene Offenlegungsverordnung der EU hat diesen Prozess beschleunigt. Durch die in den Klimakonferenzen festgeschriebenen CO2-Reduktionsziele – etwa was den Kohleausstieg betrifft – und abgeleitet durch die offensiven Pläne der neuen deutschen Bundesregierung in Richtung Dekarbonisierung oder die ökosoziale Steuerreform in Österreich werden Investitionen in den Klima- und Umweltschutz auf Dauer wachsen.

Vorerst hat der schuldenfinanzierte Immobilienboom in China keine Systemkrise ausgelöst. Ist diese Gefahr damit vom Tisch?  

Die Gefahr ist niedrig aber dennoch vorhanden. Denn das hohe Schuldenniveau hat tatsächlich das Potenzial für eine Systemkrise. Allerdings hat die chinesische Wirtschaftspolitik die Werkzeuge, um eine solche einzudämmen. Dazu gehören nötigenfalls erstens notleidende Schulden vom Staat zu übernehmen und zweitens eine sehr expansive Geldpolitik ähnlich wie in den entwickelten Volkswirtschaften.

In diesem Jahr haben viele Indizies neue Höchststände markiert. Womit dürfen Anleger in 2022 rechnen?

Im Basisszenario erwarten wir für einen globalen Aktienindex einen moderaten Kursanstieg im niedrigen einstelligen Bereich. Die Kursentwicklung in den vergangenen Jahren war bereits sehr gut. Mittlerweile ist ein günstiges zukünftiges Szenario in den Kursen reflektiert. Das Risikoprofil ist asymmetrisch nach unten gerichtet. Zum Beispiel könnten die Impfquoten zu niedrig und die Inflationsraten zu hoch bleiben. Für diese Fälle würde die Aktienkursentwicklung wahrscheinlich ungünstiger ausfallen.

20.12.2021 | 15:47

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