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Markus Braun: Vom Porno-Anbieter zum Dax-Chef

Am Donnerstag beginnt der Prozess um den spektakulärsten Betrug der deutschen Wirtschaftsgeschichte: Es geht um die Wirecard-Pleite. Hauptangeklagter ist der ehemalige CEO Markus Braun. Unser Autor hat ihn, als Braun noch Chef war, persönlich getroffen.
 
Mit Wirecard wollte er das Zahlungswesen nicht weniger als neu erfinden – Markus Braun, heute 53, verheiratet, gemeldet am Wohnsitz Wien, spätestens seit der Dotcom-Euphorie kurz vor der Jahrtausendwende aktenkundig als Unternehmer, Milliardär und Whizzkid des Geldes im Cyberspace. Der Österreicher beendete seine Karriere 2020 und begab sich vom Chefsessel seines Unternehmens „Wirecard“ nahezu direkt ins Gefängnis, in die Haftanstalt Augsburg-Gablingen, in Untersuchungshaft.
 
Nun beginnt vor der 4. Großen Strafkammer des Landgerichts München I der Prozess gegen ihn und weitere Angeklagte wegen gewerbsmäßigen Bandenbetruges, Bilanzfälschung, Marktmanipulation und Untreue. Bereits jetzt sind 100 Verhandlungstage bis ins Jahr 2024 hinein terminiert. Die „Wirecard-Story“, einst erzählt als eine Geschichte des genialen Aufstiegs eines deutschen Hightech-Unternehmens von einer 40-Mitarbeiter-Klitsche in die Weltliga des internationalen Zahlungsverkehrs, endet als betrügerisches Drama mit zahllosen Geschädigten, eines per Fahndung weltweit gesuchten Vorstandsmitglieds – und einem bitteren Rufverlust der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Kapitalmarkt-Institutionen. Allen voran die BaFin, die Bundesagentur für Finanzdienstleistungsaufsicht, die sich im Zuge der Wirecard-Enthüllungen vor allem im Ausland vollends um ihre Glaubwürdigkeit gebracht hat. Nicht zuletzt setzte sich die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY (vormals Ernst & Young) dem bittersten Spott aus. Klagen gegen alle möglichen Verantwortlichen laufen noch.
 
Im Jahr 2000 kam der gerade promovierte Wirtschaftsinformatiker Braun zu Wirecard, einem Unternehmen, das erst 1999 von den internetaffinen Gründern Detlev Hoppenrath und Peter Herzog aus der Taufe gehoben worden war. Von Beginn an konzentrierte sich Wirecard auf die Abwicklung von Online-Zahlvorgängen und verstand sich als vertrauenswürdige Schnittstelle zwischen Anbieter und Kunden. Eigenwerbung: „Betrug und Unterschlagung verhindern“. Bereits damals wurde Jan Marsalek engagiert: Der Landsmann Markus Brauns scheiterte gerade mit einem Millionenprojekt und brachte Wirecard an den Rand des Ruins. So kam Braun zum Geschäft: Der zu jener Zeit als Berater bei KPMG tätige Jungakademiker wurde zur Rettung entsandt – und kurz danach als Vorstandsmitglied berufen, zuständig für Technologie. 2001 stand Wirecard vor dem Aus und meldete das erste Mal Insolvenz an, weil eine Übernahme durch den Pornoseitenbetreiber EBS scheiterte. Unter mysteriösen Umständen verschwanden kurz zuvor bei einem nie aufgeklärten Einbruch in die Geschäftsräume die Computer von Marsalek und Braun. Der Verdacht, dass beide den Diebstahl fingiert hätten, damit EBS das Unternehmen günstig übernehmen und den Gründer ausbooten könnte, führte zu Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, die allerdings ergebnislos blieben.
 
Markus Braun wurde Vorstandsvorsitzender und Wirecard gelangte auf einem Umweg an die Börse, nämlich per Übernahme der reichlich erfolglosen „InfoGenie AG“, die am berüchtigten „Neuen Markt“ der Frankfurter Börse als Betreiber kostenpflichtiger Telefon-Hotlines notiert und zum Pennystock verkommen war. Nach Umbenennung von InfoGenie in Wirecard AG fand sich die Firma an der Börse wieder  - und Markus Braun konzentrierte sich zum einen auf neue Geschäftsfelder, zum anderen auf die Reinwaschung des Rufs von Wirecard, der sehr eng mit dem Online-Glücksspiel und Internet-Porno verknüpft war.
 
Dies gelang in den Augen von Investoren und auch Öffentlichkeit: Braun machte sich meist rar für Interviews, bei Auftritten gab er den technisch versierten Visionär, der, mit Anklängen von leichtem Größenwahn, der Welt ein nie dagewesenes Internet-Zahlungssystem schenken wolle, wie er gegenüber dem Autor in einem Interview 2018 herausstellte – und uns bereits Prototypen zukünftiger Bezahlterminals vorführen ließ. Ein merkwürdiger Kontrast spiegelte sich da zwischen dem zurückhaltend, fast ungelenk wirkenden Auftreten Brauns und seinen umspannenden Plänen – einmal nannte er es völlig ungerührt als sein Ziel, die Deutsche Bank übernehmen zu wollen. In der Tat allerdings war Markus Braun für die „Deutsche“ im Beirat tätig und beriet das größte deutsche Geldhaus in Sachen Zahlungsverkehr der Zukunft. Da sich im Laufe der Jahre auch große und größte Adressen als Investoren bei Wirecard einfanden, darunter etwa die japanische Software-Investmentgesellschaft Softbank, eilte der Wirecard-Aktienkurs von Rekord zu Rekord. Längst war nicht mehr von Porno und Glücksspiel die Rede, der Imagewandel war gelungen. Da ohnehin mit diesen frühen Angeboten im Internet kaum noch Geld zu verdienen war, und kostenpflichtige „Dialer“ der heutigen Netzgeneration als ein prähistorisches Phänomen erscheinen müssen, gelang die Abnabelung blendend. Brauns „Baby“ Wirecard expandierte in Europa und nach Asien, wo sich später die Quelle der Betrugsvorwürfe finden sollte. Über eine eigene Banklizenz verfügte Wirecard dann inzwischen auch – und war für Finanzgeschäfte nicht mehr auf Statthalter wie zuvor etwa die Citibank angewiesen.
 
Bereits 2008 gab es allerdings Vorwürfe, dass es bei den Zahlen von Wirecard nicht mit rechten Dingen zugehen würde. Markus Braun stellte sich vor das Unternehmen und verteidigte sein wahrhaft unglaubliches Wachstum - 30 Prozent jährlich waren nicht ungewöhnlich - Tenor: Die Zunahme des internationalen Zahlungsverkehrs, der in Bruchteilen von Sekunden jeweils Brauns Umsätze als Vermittler antreibe, sei Quell des Wohlstands. Dies konnte die Märkte zumindest vorläufig wieder beruhigen. Fortan allerdings stand Wirecard unter Beobachtung – und die Phalanx seiner Gegner wuchs. Besonders im Blick: Die sogenannten Drittpartner von Wirecard, die im arabisch-asiatischen Raum „Treuhandkonten“ verwalteten, um Wirecard auch dort Geschäfte zu ermöglichen, wo das deutsche Unternehmen selbst keine Zulassung besaß. Dieses angebliche Treuhändersystem wurde vom Vorstand und Braun-Vertrauten Jan Marsalek betreut – der später bei seiner Flucht vor der Justiz auch seine asiatischen Kontakte genutzt haben soll. Inzwischen vermutet man ihn in Weißrussland, aber diese Geschichte ist noch nicht geschrieben.
 
Am Ende brachten jahrelange Recherchen des Financial-Times-Redakteurs Dan McCrum und eines investigativen Teams der Zeitung Wirecard und Braun zu Fall. McCrum, der zwischenzeitlich ein Buch über seine Enthüllungsarbeit geschrieben hat, offenbarte zunächst vor allem das an ein Schneeballsystem erinnernde Vorgehen von Wirecard in Singapur und den Philippinen, wo angeblich 1,9 Milliarden Euro existieren sollten – die in den Wirecard-Bilanzen genannten Konten hingegen existierten größtenteils nicht, manchmal nicht einmal die genannten Banken, und an zahlreichen Kontaktadressen fanden sich bei Besuchen der Financial Times-Rechercheure teils Busunternehmen, teils Privatleute. Ebenfalls an der Aufklärungsarbeit beteiligt: Hedgefonds und Shortseller aus den USA und Großbritannien. Sie waren für Markus Braun und Jan Marsalek zunächst die gefährlichsten Gegner, denn sie hatten immense Mittel für Bilanzanalyse und dazu reichlich Reisespesen, und investierten dann Millionen, um auf einen fallenden Aktienkurs von Wirecard zu setzen. In der Finanzwelt sind diese Investoren traditionell eher unbeliebt, dienen aber im Idealfall der Aufdeckung von Betrug und Versagen. Als diese Shortseller wie etwa der bekannte und gefürchtete Brite Fraser Perring schließlich den Aktienkurs ins Trudeln brachten, reagierte die Finanzaufsichtsbehörde BaFin nicht etwa mit einer Untersuchung der Vorwürfe, sondern verbot ganz einfach den Leerverkauf von Wirecard-Aktien. Eine krasse Fehlleistung, so bewertet es der ehemalige Chefredakteur der Financial Times: „Nicht ein einziges Mal hat sich die Finanzaufsicht bei uns gemeldet und nach Informationen gefragt“, so Lionel Barber. Die Bafin glaubte Wirecard offenbar blind.
 
Für deutsche Anleger sieht es nun düster aus. Markus Brauns Vermögen ist gepfändet, der Insolvenzverwalter kann den Aktionären keinerlei Hoffnung machen. Die Kanzlei Tilp Rechtsanwälte, die zahlreiche Geschädigte vertritt, versucht die unterschiedlichsten Adressaten zu verklagen – manche einfach wegen Wegsehens. „Was uns wundert, ist, wie diese System des Leugnens, des Vertuschens so lange gut gehen konnte“, sagt Anwalt Marvin Kewe. Auch die Schutzvereinigung der Kapitalanleger (SdK) organisiert Klagen, und hat dabei vor allem die Wirtschaftsprüfer von EY im Visier, die jahrelang die ganz offensichtlich gefälschten Bilanzen von Wirecard mit ihrem Testat versah: Alles in Ordnung, hieß das.
 
Während Markus Braun noch öffentlich von Wirecard als dem größten DAX-Unternehmen träumte, das er mal leiten wolle, geschahen im Hintergrund mysteriöse Dinge  - Journalisten wurden ausgespäht, wie etwa die Financial Times-Redakteure, in deren E-Mail-System man ebenfalls einbrach; Hedgefonds-Manager sahen sich beschattet und auf Schritt und Tritt verfolgt. Ob der beginnende Prozess die Beteiligung Brauns an solchen Machenschaften aufdecken kann, bleibt eher ungewiss. Im Zweifel ist da immer noch der flüchtige Marsalek, der stets mit seinen Geheimdienstverbindungen prahlte und sich als Agent offenbarte – als Adresse zum Schuldabladen bestens geeignet. Braun selbst, der stets gute Kontakte zur Wiener Politik pflegte, und von deutschen Politikern zeitweise und bis kurz vor Schluss geradezu hofiert wurde, sieht sich vor Gericht ungeachtet seiner beiden Mitangeklagten ziemlich allein. Ein Kronzeuge ist auch noch da; der Whistleblower könnte das Verfahren stark beeinflussen. Wenn auch wohl nicht beschleunigen: Die Ungereimtheiten aus zwanzig Jahren harren der Aufklärung, und das wohl noch lange, einiges wenn nicht für immer. „Wirecard täuschte die meisten Leute, die ganze Zeit“, sprach schon einmal die britische Zeitschrift „Economist“ ihr vorläufiges Schlusswort.

Reinhard Schlieker 

07.12.2022 | 08:59

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