Raus aus dem Schuldensog
Von Paul Kirchhof
Die Demokratie ist erkämpft worden, damit der Steuerzahler selbst, repräsentiert durch seine Abgeordneten, im Parlament über die Höhe der Staatsausgaben, der Steuern und der Schulden entscheide. Dieses Verfahren soll die maßvolle und gleichmäßige Last für alle Bürger sicherstellen und zugleich gewährleisten, dass der Steuerzahler mit seinen Zahlungen den staatlichen Rahmen seiner Lebens- und Erwerbsbedingungen finanziert. An fremdbestimmte „Finanzmechanismen“ und an die Finanzierung anderer Staaten war nicht gedacht.
Das Demokratieprinzip geht davon aus, dass die Bürger ihre Angelegenheiten selbst regeln. Das setzt voraus, dass der Staat sich nicht durch Schulden in Abhängigkeit von seinem Kreditgeber begibt. Wenn er ständig seine Schulden verlängern und neue Kredite nachfragen muss, hat er dafür letztlich einen „politischen Preis“ zu zahlen. Eine zu hohe Schuld mindert die Souveränität des Staates. Die Entscheidungsmacht des Staatsvolkes ist bedroht. Wieder einmal wird eine Finanzkrise zur Stunde der Demokratie.
Die Krise ist entstanden, weil wir das Recht missachtet haben. Das Grundgesetz schreibt vor, dass die Schulden abgebaut und die Neuverschuldung in naher Zukunft auf null zurückgeführt werden muss. Das Europarecht setzt für die Neuverschuldung eine Grenze von 3 %, für die Gesamtverschuldung eine Grenze von 60 % des Bruttoinlandsprodukts. Beide Regeln werden gegenwärtig nicht befolgt. Hätten wir das Recht beachtet, gäbe es die Schuldenkrise nicht. Deshalb ist es hohe Zeit, die Autorität des Rechts wieder herzustellen.
Deutschland wird allerdings nicht mit einem einzigen gewaltigen Sprung zum Recht zurückkehren können. Bei einer Gesamtschuldenlast von mehr als 2 Bill. Euro müssten wir bald fast 800 Mrd. Euro zurückzahlen, um die 60 %-Grenze zu erreichen. Dies ist bei einem Gesamtsteueraufkommen Deutschlands von rund 530 Mrd. Euro schlechthin nicht möglich. Doch deshalb gilt jetzt nicht die Regel „Not kennt kein Gebot“. In einer Wüste des Rechts würden auch die Verbindlichkeit des Stabilitätsziels, die Rechtsgrundlage eines politischen Mandats und die Erfüllungspflicht aus dem Darlehensvertrag verloren gehen. Geboten ist eine stetige Annäherung an das Recht, die jeden Schritt der Sanierung aus dem Stabilisierungserfolg rechtfertigt. Erlaubt sind nur vorläufige Maßnahmen. Änderungen des Unionsvertrages oder die des Unionsvertrags oder die dauerhafte Einrichtung von Finanzierungsmechanismen sind auf diesem Weg nicht möglich. Entscheidend wird sein, dass der Staat zum Gestaltungsmittel des Rechts zurückkehrt, weniger die Macht des Geldes nutzt.
Die Null-Neuverschuldung soll bald rechtliche Normalität werden. Deshalb sind keine Sondermaßnahmen erforderlich. Doch der Gesetzgeber sollte den deutschen Staatshaushalt energisch gegen den Zugriff anderer abschirmen, die Staatsschulden in einer – dem Parlament jährlich verantwortlichen – Sonderverwaltung sichtbar machen, die Notwendigkeit bestimmter Staatsaufgaben überprüfen, Subventionen abbauen. Ein neues Denken der Familienfreiheit und der Familienpolitik sollte unserer Gesellschaft eine bessere Zukunft geben, ein Wachstum durch Kinder.
Der Abbau der gewaltigen Staatsschulden fordert Sondermaßnahmen. Alle nominalen Haushaltszuwächse sollten für die Schuldentilgung reserviert, die Steuererträge einzelner Steuern – des Solidaritätszuschlags und der Erbschaftsteuer – dem Schuldenabbau vorbehalten werden. Zur Erhöhung des Steueraufkommens ist an eine Finanztransaktionsteuer zu denken, die eine Gerechtigkeitslücke bei den indirekten Steuern schließt und die Mitverursacher der Schuldenkrise zur Verantwortung zieht. Auch die Veräußerung von Staatsvermögen kann zur Sanierung beitragen. Finanzhilfen sollten nur auf Gegenseitigkeit gewährt werden.
Sind Staaten oder Unternehmen durch Hilfe eines Staates saniert worden, haben sie zur Entschuldung beizutragen. Eine sanierte Bank verzichtet auf Zinsen oder Kreditrückzahlung, eine Automobilfirma leistet unentgeltlich Fahrzeuge, ein sanierter Staat teilt den Sanierungserfolg als fremde Frucht mit dem sanierenden Staat. Eine faktische Schuldentilgung durch Inflation ist nicht zulässig, weil sie die Schuldenlast vor allem den Geldeigentümern aufbürdet, im Übrigen das Vertrauen in das Geld, die Grundlage unserer Wirtschaft, zerstört.
Erstes Ziel der Sanierung ist es, den Staat zu festigen. Es geht um inneren und äußeren Frieden, die Sicherheit im Recht, die Rahmenbedingungen unserer Freiheit, um Bildung und Ausbildung, um ein ökonomisches und kulturelles Existenzminimum für jedermann. Die Anliegen des Finanzmarktes – der Finanzinstitute und Finanzakteure, der Versicherungen und Anlegerfonds, der Kapitaleigentümer und Spekulanten – sind beachtlich, aber zweitrangig. Unsere Freiheit und unsere Demokratie brauchen einen Staat voll Kraft und Maß. Wir wollen Bürger, nicht Bürgen sein.
Paul Kirchhof ist ein bedeutender Verfassungs- und Steuerrechtler und einer der führenden Finanzexperten. Kirchhof hat an der Universität Heidelberg einen Lehrstuhl für Staatsrecht inne. Von 1987 bis 1999 war er Richter am Bundesverfassungsgericht.
Der Text ist in dem neuen Buch von Paul Kirchof „Deutschland im Schuldensog” (Beck-Verlag, München) erschienen.
01.07.2013 | 18:20