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Cameron zwingt Europa zur Reform

Großbritanniens Wahlsieger David Cameron lässt sein Land über einen EU-Austritt abstimmen und zwingt Europa damit eine Grundsatzdebatte auf. Endlich – denn die Union braucht eine Neuordnung mit mehr Bürgersinn und weniger Staatlichkeit.

Europas Sozialdemokraten ärgern sich über den Wahlausgang in Großbritannien, als sei Maggie Thatcher wiederauferstanden: das schwarze Böse an sich –
nur diesmal ohne Handtasche. Sie hatten auf den braven Labourführer Ed Miliband gehofft, damit ihre Brüsseler Zentralisierungsmaschine ruhig hätte weitersurren können. Doch nun steht im Maschinenraum ein unbequemer Polit-Ingenieur, der den schweren Umverteilungsdiesel am liebsten durch kleine, dezentrale Elektroantriebe ersetzen will.

David Camerons Sieg ist nicht nur fulminant, er ist auch ­eine Zäsur für Europa. Wie vor 30 Jahren stellt nämlich ein britischer Premier der EU offen die Verfassungsfrage. Und wie vor 30 Jahren geht es nicht bloß um Geld und Einfluss, es geht um das Selbstverständnis der ­Union. Die Ankündigung Camerons, eine Volksabstimmung über den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union abzuhalten, wird nicht nur zu einer historischen Verhandlungsrunde zwischen Brüssel und London um Kompetenzen und Finanzen führen. Sie wird in ganz Europa eine Grundlagendebatte entfachen.

Doch Camerons Entscheid ist weniger Drohung und Ärgernis als eine Chance. Denn Europa braucht eine Reform genauso wie eine größere innere Akzeptanz. Die Mehrheit der Briten hat in vielen Punkten ihrer EU-Kritik schlichtweg recht. Und eine wachsende Zahl von Kontinentaleuropäern teilen ihre Skepsis über den jetzigen Zustand der Union.

Warum? Weil die EU die Aura des Höfischen hat. Weil sie eine Welt aus Subsidien, Günstlingsfonds, Apanagen und Zünften verkörpert. Weil Brüssel mit seinem Paternalismus ein gefühltes Ancien Régime geworden ist. Nicht London, sondern Brüssel ist auf dem Weg, die Heimat abgestandener Ansichten zu werden. Denn die Leitidee eines Staatenbunds, der auftritt wie ein verbeamteter Sozialarbeiter-Besserwisser mit lauter Leitz-Ordnern, stammt aus den 70er-Jahren.

Zwei realpolitische 
Schwächen

Die klassische Kritik am Bürokraten- und Bevormunder-Brüssel, an der Hinterzimmer-Scheindemokratie, der Lobbyismushochburg wird in jüngster Zeit durch zwei realpolitische Schwächen verstärkt. Zum einen wankt die Euro-Finanzordnung und die Verteilungsfrage ist ungelöst. Zum anderen sind die Außengrenzen im Osten und im Süden unter Druck. Eine gemeinsame Außen- und Militärpolitik aber bringt Europa bislang nicht zustande.

Es kulminieren also habituelle, demokratische und machtpolitische Defizite, und die Legitimationskrise ist zusehends mit realen Problemen unterlegt: Wenn die Union Multimilliarden in Agrarfonds vergeudet, Europas Digitalwirtschaft aber den Anschluss verliert; wenn Europa horrende Summen in korruptionsanfällige Kohäsions-, Struktur- und Sozialfonds verbrät, die Wettbewerbslage des Südens aber immer schlechter wird; wenn Europa sich die größte Diplomatendichte der Welt leistet, aber nicht einmal einen Ukrai­ne-Konflikt mit den Nachbarn friedlich lösen kann; wenn Europa als selbstgefälliger Weltverbesserer und Klimaretter auftritt, aber kein schlüssiges Afrika-Konzept hat; wenn Europa Freizügigkeit propagiert, aber einer beginnenden Völkerwanderung ratlos gegenübersteht – dann läuft etwas Fundamentales falsch. Europa braucht, wie Donald Tusk es lakonisch formuliert, einfach ­eine „bessere EU“. Mit weniger manischem Regulierungseifer – bürgersinniger, freiheitlicher, schlanker, marktwirtschaftlicher und außenpolitisch entschiedener. Camerons Ruf nach einer neuen Geschäftsordnung kommt also zur richtigen Zeit – gerade um das Feld nicht den Rechtspopulisten und Neo-Nationalisten zu überlassen.

Denn gegen das systemische Versagen helfen keine Appelle und keine PR-Kampagnen, sondern nur entschiedene Reformen. Deutschland kann von diesem Impuls aus London besonders profitieren – nicht nur wegen der chronisch unfairen Lastenteilung in Europa, die damit korrigiert werden könnte. Sondern auch wegen der Staats­idee, die hierzulande föderal, partizipatorisch und subsidiär geprägt ist – und eben nicht zentralistisch und planwirtschaftlich. Im Grunde geht es um die Frage, ob wir eine Hollande-Varoufakis-EU oder ein Cameron-Merkel-Europa haben wollen. Grexit (Griechenlands Austritt aus dem Euro) oder Brexit (also Britanniens Austritt aus der EU) könnte am Ende die unangenehme Wahl Europas lauten.

Unseriöser 
Staatenclub

Je mehr sich die EU von Griechenland vorführen, erpressen und finanziell ausnehmen lässt, desto mehr wächst in Großbritannien der Wille, aus diesem unseriösen Staatenclub auszutreten. Und so könnte der Brexit erfolgen, weil alle immer nur den Grexit verhindern wollten.

Der Brexit freilich dürfte für Europa desaströse Folgen ­haben. Großbritannien wird im laufenden Jahr Frankreich als zweitgrößte Volkswirtschaft der Union überholen, die Handelsbeziehungen sind gewaltig und sehr eng. Mit einem Brexit müsste London den Marktzugang völlig neu aushandeln. Schwere Verwerfungen an den Finanzmärkten – London ist der größte Euro-Transaktionsplatz – wären die Folge. Für Deutschland wäre ein Austritt Großbritanniens nicht nur wirtschaftlich ein schwerer Schlag. Auch politisch würden sich Gewichte innerhalb der EU südwärts verlagern. Berlin verlöre einen wichtigen Verbündeten gegen eine linkslastige Umverteilungspolitik der Südeuropäer.

07.07.2015 | 16:02

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