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Die Dreifachkrise

Der neue Chef der Weisen

Die Probleme im Euroraum sind nach wie vor nicht gelöst, warnt Prof. Christoph M. Schmidt. Die Niedrigstzinsen sind keine gesunde Basis. Der RWI-Präsident spricht außerdem über die soziale Marktwirtschaft, die Energiewende und Mindestlöhne.

WirtschaftsKurier: Herr Prof. Schmidt, die öffentlichen Haushalte haben vor allem von der guten Konjunktur der Jahre 2011 und 2012 profitiert und für 2014 werden auch für den Bund Überschüsse erwartet. Doch Sie warnen vor zu viel Euphorie und verweisen auf Sonderfaktoren, die derzeit wirken. Um welche handelt es sich?

Prof. Christoph M. Schmidt: In Deutschland hat die Steuerquote – Steuereinnahmen im Verhältnis zum realen BIP – 2012 einen Spitzenwert von 23,4% erreicht. Trotzdem gibt es eine Steuererhöhungsdebatte. Dies gibt uns Anlass zur Warnung, denn Deutschland hat auch in den nächsten Jahren kein Einnahmeproblem. Ein weiterer Punkt ist die Eurokrise: Zwar hat die EZB durch ihr Einschreiten die Märkte beruhigt, damit ist die Schuldenkrise aber keinesfalls schon überwunden. Die Risiken für die Konjunktur sind erheblich, das gesamtwirtschaftliche Wachstum stagnierte in den vergangenen beiden Quartalen. Natürlich haben wir in Deutschland immer noch eine gute Arbeitsmarktsituation – sie wurde durch umfassende Reformtätigkeit hart erarbeitet.

Die Oppositionsparteien fordern trotz höherer Staatseinnahmen eine Anhebung der Steuern. Was halten Sie davon?

Wer argumentiert, man müsse ein höheres Steueraufkommen haben, um die anstehenden Aufgaben erfüllen zu können, der muss sich zunächst der Frage stellen: Warum gibt es keine Möglichkeit, an den Steuer- und Ausgabensubventionen zu streichen? Es ist vermessen, höhere Einnahmen zu fordern, obwohl die Einnahmen des Staates so hoch sind wie nie zuvor.

Wie hoch beziffern Sie die jährlichen Subventionszahlungen des Staates derzeit und welche Zahlungen könnten ohne Weiteres gestrichen werden?

Das Subventionsvolumen in weiter Abgrenzung betrug im Jahr 2011 etwa 167 Mrd. Euro. Subventionen sind überwiegend ineffizient, verzerren die Produktionsstruktur und behindern so die Wachstumskräfte. Es bietet sich zunächst an, die offenen Posten der Koch-Steinbrück-Liste abzuarbeiten. Daraus errechnet sich ein Einsparpotenzial von etwa 60 Mrd. Euro. Zudem sollten die Steuerbefreiung von Zuschlägen für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit und Umsatzsteuersatzermäßigung etwa für Beherbergungsleistungen gestrichen werden.

Es geht der Opposition insbesondere darum, die Vermögenden, Erben und „Reichen“ stärker zur Kasse zu bitten.

Die Diskussion um die Einkommensteuerstruktur dreht sich aber nicht darum, nur den oberen Zehntausend tiefer in die Tasche zu greifen, sondern das obere Zehntel ist im Visier, und das beginnt bei einem Jahreseinkommen von rund 70000 Euro. Die Debatte suggeriert häufig, dass nur die Einkommensmillionäre betroffen seien – das stimmt nicht.

Betroffen ist auch der obere Mittelstand.

In der Tat, betroffen sind auch mittelständische Unternehmer, von denen viele der Einkommensteuer unterliegen. Höhere Steuern schlagen auf die Gewinnsituation durch und beeinträchtigen tendenziell die Investitionsentscheidungen, von denen in der Regel auch die Schaffung von Arbeitsplätzen abhängt. Die Wirtschaftsstruktur ist hierzulande gerade deshalb so stabil, weil wir eine gute Balance zwischen großen, mittleren und kleineren Unternehmen haben. Die dürfen wir nicht aufs Spiel setzen. Wenn man die Steuerstruktur verändert und die Grenzbelastung der Steuer erhöht, dann werden sich auch gut verdienende Angestellte die Frage stellen, wie weit sich zusätzliches Arbeiten noch lohnt.

Nach Umfragen der Grünen akzeptieren die Deutschen mehrheitlich mehr Steuern, mehr Staat und höhere Abgaben. Was hat die deutsche Seele so verändert?

Die mir bekannten Umfragen kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Entscheidend ist doch die Fragestellung. Auf die Frage, ob Reiche höher besteuert werden sollten, fällt die Antwort sicherlich anders aus als auf die Frage, ob alle Einkommensbezieher ab 70000 Euro höher besteuert werden sollten. Und schließlich wissen wir, wie sehr derartige Antworten vom tatsächlichen Wahlverhalten abweichen können. Ich würde solchen Befragungen kein zu hohes Gewicht beimessen.

Aber tatsächlich gewandelt hat sich doch hierzulande die Einstellung gegenüber marktwirtschaftlichem Tun.

Ja, wir sehen in der Debatte der vergangenen Jahre einen Umschwung: Es gibt breite Kritik an der Marktwirtschaft. Das ist bemerkenswert, da uns die soziale Marktwirtschaft in der Vergangenheit große Vorteile beschert hat. Ich denke nicht nur an die hohe Prosperität, die wir hierzulande immer noch genießen. Ungewöhnlich hoch ist – verglichen mit anderen Ländern – auch der soziale Ausgleich. Deutschland ist zudem ungleich besser durch die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise gekommen als die meisten anderen Industrieländer. Das zeigt sich vor allem an der guten Lage am Arbeitsmarkt, wo sogar in der Krise die Zahl der Arbeitslosen geschrumpft ist. Und das hat wesentlich mit unserem Wirtschaftssystem – der funktionierenden sozialen Marktwirtschaft – zu tun.

Wer trägt hierzulande das meiste zu den Einnahmen des Staates bei?

Es gibt natürlich Steuern – insbesondere die Umsatzsteuern –, die alle am Wirtschaftsprozess Teilnehmenden zahlen. Bei der Einkommensteuer zahlen indes nur 10% der Steuerpflichtigen mit den höchsten Einkommen etwa 50% des Aufkommens aus dieser Steuer. Es findet also eine erhebliche Umverteilung statt – im Status quo. Folglich ist die Aussage, wir müssten aufgrund einer Schieflage in der Einkommensverteilung nun kräftig umverteilen, allein nicht haltbar.

Trotz Rekordeinnahmen des Staates scheint das Geld zum Beispiel weder für genügend Krippenplätze noch für ausreichende Integration oder die Senkung des Armutsrisikos für Alleinerziehende zu reichen. Die Infrastruktur droht zu verkommen und auch für zukunftsweisende Großprojekte reicht es nicht. Übernimmt sich der Staat – oder mangelt es am effizienten Einsatz der Mittel?

Wenn trotz Mehreinnahmen wichtige Aufgaben nicht erledigt werden können, muss überprüft werden, an welchen Stellen effizienter gearbeitet werden kann. Wer die vorhandenen Einsparmöglichkeiten – vor allem in der öffentlichen Verwaltung – realisiert, der kann wohl auch ohne Steuererhöhungen Investitionen in Bildung, Infrastruktur und zukunftsrelevante Bereiche finanzieren. Aber zu fragen ist auch, ob der Staat alle Aufgaben selbst erledigen muss oder ob Private kostengünstiger liefern können. Derzeit haben wir eher die Tendenz zur Rekommunalisierung von Aufgaben. Das ist aber nicht immer der richtige Weg. Die von Ihnen angesprochenen Armutsrisiken sehe ich nicht. Unser soziales Sicherungssystem funktioniert nach wie vor. Gesetzliche Vorgaben – wie zum Beispiel das Arbeitslosengeld II – werden erfüllt.

Sie haben auf die immer noch schwelende Eurokrise und die EZB hingewiesen, der es gelungen ist, durch ihr Handeln die Märkte vorübergehend zu beruhigen. Dazu gehört die Niedrigstzinspolitik, die allerdings den Sparern Vermögensverluste beschert, weil der Zins seit geraumer Zeit unter der Inflationsrate liegt. Wie lange müssen wir mit dieser Situation leben?

Auf Dauer kann ein negativer Realzins natürlich keine gesunde Basis sein. Dennoch ist es derzeit nicht möglich, das Ende der Niedrigstzinspolitik zu prognostizieren. Die Probleme, die uns in diese Krise gebracht haben, sind nicht gelöst. Nach wie vor leidet der Euroraum unter einer Dreifachkrise: hohe Staatsschulden, Probleme im Bankensektor und mangelnde Wettbewerbsfähigkeit einiger Euroländer. Solange diese Strukturprobleme nicht gelöst sind – vor allem aber nicht geklärt ist, wer die Lasten der Bankenrettung übernimmt –, wird sich die Situation nicht ändern und die EZB dürfte ihre stützende Funktion mithilfe der ungewöhnlichen Geldpolitik fortführen.

Haben wir es im Moment mit einer Umverteilung vom Sparer zum Schuldner zu tun?

Wer für seine Altersvorsorge Geld zurücklegen oder sein Vermögen zumindest erhalten will, der sieht sich momentan erheblichen Schwierigkeiten gegenüber. Die Rendite für sichere Anlagen ist sehr niedrig. Andererseits freuen sich die Kreditnehmer – zum Beispiel die Häuslebauer, die animiert werden, zu niedrigsten Zinsen ihren Traum vom eigenen Haus zu verwirklichen.

Das billige Geld reizt zu Engagements am Immobilien- oder auch am Aktienmarkt. Es beflügelt aber nicht die Ausrüstungsinvestitionen. Dabei wäre das unter anderem wichtig, um die Konjunktur zu beleben.

Es herrscht Unsicherheit, und als wesentlicher Grund gilt die Euroschuldenkrise. Sie ist zwar nicht mehr so virulent wie im vergangenen Jahr, aber bei Weitem noch nicht gelöst. Beflügelt wird die Unsicherheit in Deutschland zudem durch die Energiewende. Zweifellos ist die Wende – weg von der Kernkraft, hin zu alternativen Energiequellen – vom größten Teil der Bevölkerung gewollt. Er möchte in eine Welt eintauchen, in der die Klimagasemissionen sehr viel niedriger, der Anteil der Erneuerbaren sehr viel höher und die Energieeffizienz sehr viel größer ist. Aber niemand kann heute genau sagen, wie die Weichen gestellt werden müssen, um diese Ziele kosteneffizient zu erreichen. Und es herrscht große Unsicherheit darüber, wie das Förderinstrumentarium aussehen soll. Vor allem energieintensive Unternehmen agieren da natürlich sehr vorsichtig: Sie benötigen Planungssicherheit, bevor sie sich mit Investitionen für lange Zeit festlegen können.

Die Verbraucher blicken – auch wegen vermuteter kräftiger Strompreissteigerungen – mit Besorgnis in die Zukunft.

Es gibt Studien, die sich mit den Kosten der Energiewende befassen. Da es – wie bereits gesagt – nicht klar ist, welchen Weg man in der Energiewende letztlich beschreiten will, gibt es auch keine Möglichkeit, ein konkretes Preislabel mit einiger Verlässlichkeit für die Energiewende zu setzen. Dennoch geben die Szenarien – die bereits durchgerechnet wurden – erste Anhaltspunkte. Danach wird man allein für den Ausbau der Erneuerbaren mit etwa 300 Mrd. bis 500 Mrd. Euro rechnen müssen. Gegenzurechnen ist allerdings, dass der alte Kraftwerkspark erneuerungsbedürftig geworden wäre. Trotzdem – wir rechnen in jedem Fall mit einigen Hundert Milliarden Euro.

Wer soll die enormen Kosten tragen?

Der Stromverbraucher wird die Kosten des Umbaus des Energieversorgungssystems tragen müssen. Ein wichtiges Element ist dabei die Verteilung zwischen Unternehmen und privaten Haushalten. Wenn man die Lasten gleichmäßiger verteilen würde, würde die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen leiden. Leiden dürften dann auch die privaten Haushalte, deren Arbeitsplätze zum Teil verloren gingen. Würde man die Lasten ungleich – weitgehend zuungunsten der privaten Haushalte – verteilen, dann fürchten diese um ihre Budgets und könnten die Energiewende infrage stellen. Wichtig ist, dass die Politik in der nächsten Legislaturperiode entscheidet und vermittelt, wie sie die Energiewende effizient fördern wird. Das Förderinstrumentarium bedarf einer Modifikation, denn die Preisaufschläge durch die Förderung der Erneuerbaren sind mittlerweile sehr hoch, und sie werden nicht schrumpfen.

Wenn es ans eigene Portemonnaie geht, reagieren die privaten Haushalte sensibel. Politiker fordern flächendeckende Mindestlöhne von bis zu zehn Euro. Aber sind Mindestlöhne ein wirkungsvolles Instrument in einer sozialen Marktwirtschaft?

Die soziale Marktwirtschaft verfolgt bei den Einkommen zwei Wege, deren Kombination sich sehr bewährt hat: Man gewährt der individuellen Leistungsbereitschaft und Kreativität viel Raum, damit die in der Volkswirtschaft zu verteilende Wertschöpfung möglichst hoch ausfallen kann. In einem zweiten Schritt wird – durch eine erhebliche Umverteilung der Einkommen von oben nach unten – eine als sozial kohärent und auskömmlich angesehene Verteilung der verfügbaren Einkommen hergestellt. Armutsbekämpfung wird bisher also, unter Berücksichtigung der Familiensituation, durch eine Aufstockung der Einkommen betrieben.

Also wären Mindestlöhne artfremd?

Ja, denn sie stellen einen Eingriff in das Lohn- und damit in das Preisgefüge dar. Wenn Mindestlöhne sehr hoch angesetzt werden, geht man von dem Prinzip der Betrachtung der Familiensituation ab und zielt auf den einzelnen Arbeitnehmer. Das birgt große Risiken: Bei einem zu hoch gewählten Mindestlohn verlieren viele Arbeitnehmer ihren Arbeitsplatz. Ihnen ist durch Umverteilung nicht mehr Gerechtigkeit widerfahren. Wer dagegen seinen Arbeitsplatz behält, steht natürlich besser da als zuvor. Eine umsichtige Politik sollte zudem die gefährlichen Nebenwirkungen von Mindestlöhnen nicht übersehen. Ich halte es für sehr problematisch, dass mittlerweile alle Parteien auf eine Lohnuntergrenze einschwenken wollen. Das Instrument der Mindestlöhne sollte – so, wie es derzeit angedacht ist – nicht umgesetzt werden.

In einigen Branchen gibt es bereits Mindestlöhne. Wie sind hier die Erfahrungen?

Ja, durch das Arbeitnehmer-Entsendegesetz wurden bereits in speziellen Branchen Mindestlöhne eingeführt, und dazu gibt es auch wissenschaftlich belastbare Untersuchungen. Unser Institut, das RWI, hat unter diesem Aspekt die Bauwirtschaft unter die Lupe genommen. Im Westen des Landes hatten die Mindestlöhne nur geringe Auswirkungen, weil im Vergleich der hier gezahlten Löhne der Mindestlohn nicht besonders hoch ist. Im Osten dagegen war die Betroffenheit relativ groß. Das heißt, der Mindestlohn zog die Löhne der unteren Lohngruppen nach oben.

Und wie hat sich das auf die Beschäftigung ausgewirkt?

Die dadurch ausgelösten Beschäftigungsverluste waren relativ gering. Der Mindestlohn hat den deutschen Arbeitnehmern, die das Entsendegesetz schützen sollte, in der Regel nicht geschadet. Allerdings wurden wohl ausländische Arbeitnehmer vom deutschen Arbeitsmarkt ferngehalten: Das war offenbar auch die Absicht des Gesetzes.

Ist das nicht der Beweis dafür, dass Mindestlöhne nicht schaden?

Nein, der punktuelle Mindestlohn in speziellen Branchen – zum Beispiel dem Bau – ist kein Beleg dafür, dass auch ein flächendeckender Mindestlohn unschädlich wäre. Geht es nicht nur um eine Branche, sondern um die flächendeckende Einführung von Mindestlöhnen, und vor allem nicht um den Schutz gegenüber ausländischen Arbeitnehmern, dann wären ja auch hiesige Arbeitnehmer – die man gerade nicht aus dem Markt drängen will – Betroffene.

Dieter W. Heumann

21.06.2013 | 14:41

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