Hauptsache links
Gesellschaft: Sie sind öko. Antikonsumistisch. Extrem kritisch. Etatistisch. So ticken die modernen Konformisten des Andersseins. Sie beherrschen die öffentlichen Debatten. Und damit das Denken der meisten. Anmerkungen zum real existierenden Sozialismus.
Wir empfinden heute alle irgendwie wie weichgespülte Achtundsechziger, ob wir wollen oder nicht. Das Leben wäre sonst auch zu anstrengend. Die revolutionären Ideen der Achtundsechziger sind zwar zerplatzt wie Seifenblasen. Doch haben die Sozis den Rat Antonio Gramscis befolgt und den Marsch durch die Institutionen angetreten, um von dort aus höchst erfolgreich den Kampf um die „kulturelle Hegemonie“ aufzunehmen. Ihre Lufthoheit über die Diskurse hat die Rhetorik der Politik so tief greifend verändert, dass sich heute eine nicht wenigstens sozialdemokratische Politik kaum mehr artikulieren kann. Alle deutschen – und selbstverständlich auch die meisten helvetischen – Politiker sprechen die gleiche weichgespülte, rot-grüne Sprache.
Intellektuelle Ghettos
Alle reden ja heute von Parallelgesellschaften und meinen damit die schlecht integrierten Einwanderer in den Ghettos großer Städte. Aber es gibt auch Parallelgesellschaften, die bestens integriert sind und sich dabei pudelwohl fühlen. Sie leben in den geistigen Ghettos der Parlamente, Redaktionen und Universitäten und diktieren uns von dort aus, wie wir die Welt zu sehen haben – nämlich kritisch.
„Kritisches Bewusstsein“ ist heute ein Modeartikel, den man auf dem Markt der Massenmedien kaufen kann. In einem über Jahrzehnte hinweg stabilen Selbstmissverständnis haben sich die kritischen Bewusstseine für „anders“ gehalten, das heißt für unbestechlich durch die Lockungen des Konsums und immun gegen den Zeitgeist. Die Linksintellektuellen machen Abweichungen zum Business. Sie beherrschen das Marketing des „Anti“. Früher waren sie Salonsozialisten, heute treten die Kritiker als Celebrities in den Talkshows auf. Das Wort, das Christian Wernicke einmal für die Non Governmental Organizations geprägt hat, passt gut auf die Linksintellektuellen, die für sich in Anspruch nehmen, die Intellektuellen tout court zu sein: „die hofierten Störenfriede“. Furchtlos vertreten sie die Meinung der Mehrheit, diese modernen Konformisten des Andersseins.
Der Erfolg der deutschen Linken brachte es mit sich, dass sie seit Jahrzehnten keine politische Idee mehr gehabt haben. Und wenn man theoretisch nicht mehr weiterweiß, wird man moralisch aggressiv. Die Erben der Achtundsechziger, die der Berliner Philosoph Peter Furth „Wächtergeneration“ genannt hat, ersetzen das Denken durch Moralismus und Sprachhygiene. Die daraus resultierende Politik der Heuchelei begünstigt die Moralbonzen und Oberlehrer. Vor allem die Steigbügelhalter der „Weltmacht Habermas“ („Die Zeit“), des Philosophen der Reeducation, tun sich hier gern hervor. Doch dessen „herrschaftsfreier Diskurs“ ist längst in eine Sprachdiktatur dessen umgeschlagen, was man sagen und denken darf – und was nicht. Wer sich nicht daran hält, wird nicht widerlegt, sondern moralisch diskreditiert. Allzu viele haben hingenommen, dass sich die Moral längst vom gesunden Menschenverstand abgekoppelt hat. Willig dienen die Massenmedien den Wohlmeinenden als Organe der Gesinnungskontrolle. Das ist eine geistige Klimakatastrophe, die viel schlimmer ist als die ökologische.
Romantik des Antikapitalismus
Schauen wir uns zwei Phänomene genauer an, die tief greifende politische Konsequenzen haben – ich meine die politische Romantik des Antikapitalismus und die Öko-Religion der Angst. Im Zuge der Weltfinanzkrise haben die Linksintellektuellen den Antikapitalismus als Geschäftsmodell wiederentdeckt. Da sie nichts vom System einer modernen durchmonetarisierten Wirtschaft verstehen, verteufeln sie den Mammon. Da sie trotz Marx-Lektüre mit einer konsequenten Ignoranz in allem, was „das Kapital“ betrifft, gesegnet sind, besorgen sie das Geschäft der Dämonisierung. So ist wieder eine politische Romantik entstanden, die den Ohnmächtigen und Ratlosen suggeriert, das Böse der Welt würde sich in der Wall Street konzentrieren. Das ist der geistige Flurschaden, den die Finanzkrise in den Gemütern vieler Menschen angerichtet hat. Es gibt eine neue Internationale des Hasses gegen das zirkulierende Geld und der Sehnsucht nach dem alles regelnden Vater Staat. Karl Marx, der den Staat überwinden wollte, würde sich im Grabe umdrehen.
Während alle Welt eine entschlossene Führungsrolle Deutschlands in der Eurokrise fordert – und seien wir ehrlich: zugleich auch fürchtet! –, haben die meisten deutschen Intellektuellen nichts zu der Frage zu sagen, was Europa heute heißt. Und während alle Welt kapitalistisch wirtschaftet, blockiert der romantische Antikapitalismus jedes Nachdenken darüber, wie eine erfolgreiche Zukunft des Kapitalismus aussehen könnte. Beide Fragen hängen natürlich eng miteinander zusammen, denn es geht hier um die Einzigkeit Europas, die Freiheit des Westens, die durch technischen Fortschritt und wirtschaftliches Wachstum, freien Markt und Individualismus, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie definiert ist.
Der roten Hysterie entspricht die grüne. Erinnern wir uns: Nach Tschernobyl ging in Freiburg die Welt unter, während wenige Kilometer weiter, hinter der französischen Grenze, das Leben seinen gewohnten Lauf nahm. Und auch heute ist die deutsche Reaktion auf Fukushima einzigartig. Sind nur die Deutschen die Schriftkundigen, die das Menetekel lesen können? Sind die anderen alle Analphabeten der modernen Technik?
Die Deutschen sind die Avantgarde der Angst. In unserem Verhältnis zur Technik sind sie auf dem Rückweg vom Risiko zum Tabu, das heißt von einem rationalen zu einem magischen Verhalten. Es geht hier um die Gefahr der noch unerkannten Gefahr, mit der eine Politik der Angst die technologische Entwicklung lähmen will.
Einer der verblüffendsten Sachverhalte in dieser modernen Glaubenslandschaft ist die Gleichwertigkeit von Paradies und Apokalypse. Wer aus dem Traum vom sozialistischen Paradies erwacht ist oder sich diesen Traum als zu kindlich verbietet, kann den gleichen Glaubenseffekt erzielen, indem er sich vor dem Untergang der Welt fürchtet. Genau wie früher der Kommunismus das Paradies auf Erden versprach, bietet heute die Apokalypse der Umweltkatastrophe die Gewissheit, dass das Entscheidende nicht irgendwann in ferner Zukunft, sondern noch während des eigenen Lebens passiert.
Die apokalyptische Drohung produziert Heilssorge. Deshalb tritt man der Sekte bei, wirft Bomben im Namen der Unterdrückten und Beleidigten, befreit die Hühner aus den Legebatterien oder trennt doch wenigstens den Hausmüll.
Und Apokalypse heißt stets: Was hier auf dem Markt der Gefühle angeboten wird, war noch niemals da; die Wende der Welt steht mir selbst bevor – als absolutes Erlebnis. Deshalb verkauft sich heute in der westlichen Wohlstandsgesellschaft auch nichts besser als Öko, Bio und Grün. Und längst hat Hollywood diese neue Form der Gehirnwäsche, das „Greenwashing“, in eigene Regie genommen; seine Sterne und Sternchen präsentieren uns die Rettung der Welt als gute Unterhaltung.
Die Apokalypse ist deutsch
Diese Kunst, aus der apokalyptischen Drohung den Honig der guten Tat und der erfolgreichen Geschäftsidee zu saugen, unterscheidet trotz allem die amerikanische Öko-Religion von der deutschen, die sehr viel mehr auf die Katastrophe als Negativ des Heils fixiert ist. So kann es auch nicht verwundern, dass die empirischen Apokalypsen überwiegend deutsche Fantasien sind. 1837 dichtet der Naturforscher Karl Friedrich Schimper die Eiszeit. 1865 beschwört der Physikprofessor Rudolf Clausius den Wärmetod. 1981 prophezeit der Bodenforscher Bernhard Ulrich das Waldsterben. Nur die Klimakatastrophe verdankt sich nicht deutscher Einbildungskraft: 1988 erfindet James Hansen die „globale Erwärmung“.
Die Theologie des Weltuntergangs ist durch die Ökologie des Weltuntergangs ersetzt worden. Statt „Was darf ich hoffen?“ fragt die heutige Religiosität „Was muss ich fürchten?“. In der Faszination durch die Katastrophe schwanken die Bürger zwischen Heilsversprechen und Elendspropaganda, zwischen Hysterie und Hoffnung. Die Welt ist noch zu retten, wenn wir alle am Gottesdienst der Vorsorge und Sicherheit teilnehmen. Schon heute ist die Religion des Sorgens und Schützens die eigentliche Zivilreligion der Deutschen. Sie folgt dabei den grünen Hohepriestern, die sie weg von Gott Vater und hin zu Mutter Erde führen. Diejenigen, sie sich mit reli-giöser Inbrunst der Natur zuwenden, sind von der Geschichte enttäuscht. Und weil sie sich nicht mehr in die Arme der Kirche zu werfen wagen, beten sie grüne Rosenkränze.
Aber es gibt auch Gegenanzeigen. So können die Deutschen viel von bekehrten Linken wie Hans Magnus Enzensberger und Peter Furth lernen. Einige souveräne Denker wie Peter Sloterdijk und der 2011 verstorbene Friedrich Kittler haben schon heute aufmerksame Leser gefunden. Und tapfer wehren sich ein paar mutige Journalisten wie Jan Fleischhauer, Michael Klonovsky und die fabelhafte „Achse des Guten“ gegen den rot-grünen Mainstream. Doch eine geistige Wende wäre in Deutschland nur möglich, wenn die, die wirklich denken, den Mut zum Coming-out hätten: „Ich bin gar nicht links.“
09.09.2013 | 10:00