Niedrigzinsen: Die Rechnungen der Versicherungen gehen nicht mehr auf. Deshalb suchen die Gesellschaften nach neuen Wegen in der Anlage und bei der Produktgestaltung. Doch die EU erschwert diesen Weg.
"Kein Unternehmen unserer Branche kann die Mathematik außer Kraft setzen", stellt Alexander Erdland, Präsident des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV), fest. Denn die Branche ächzt derzeit hörbar unter den niedrigen Zinsen. Hinzu kommen noch die Staatsschuldenkrise sowie immer stärkere regulatorische Auflagen.
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Dazu gehört auch die von der EU-Kommission geplante und von der Versicherungsbranche scharf kritisierte Richtlinie Solvency II, mit der – vergleichbar zu Basel III für die Banken – den Gesellschaften deutlich strengere Vorgaben für die Unterlegung von Geschäften mit Eigenkapital verordnet werden soll. Das Hauptproblem aus Sicht der Versicherungswirtschaft: Die im Solvency-II-Entwurf auch für Investments in Infrastrukturprojekte – etwa Energieanlagen und Verkehrsprojekte – vorgesehene Vorschrift einer Eigenkapitalunterlegung von mindestens 49 % sei „unverhältnismäßig“ und erschwere die notwendige Umschichtung der Anlagen der Versicherer erheblich, so befürchtet der GDV. Verbandspräsident Erdland nennt als vertretbare und leistbare Eigenkapitalvorgabe für Infrastrukturprojekte „10 % bis 20 %“.
Gerade solche Investitionen sind ein Eckpfeiler der notwendigen Neuorientierung der vom Niedergang der Zinsen auf (einigermaßen sichere) Staatsanleihen gebeutelten Versicherungswirtschaft: So beteiligt sich beispielsweise die Allianz-Gruppe im Inland bereits an 36 Onshore-Windenergie-Feldern und sieben Solarenergie-Parks. Nun will der Konzern auch den Bau eines Windparks mit der Gesamtleistung von 72 Megawatt in Nordschweden finanzieren. Rund 1,5 Mrd. Euro haben die Münchner bereits in Projekte der erneuerbaren Energien investiert – oder fest verplant.
Andere Versicherungen setzen die Schwerpunkte ihrer neuen Anlagepolitik im Bereich der Anleihen solventer Unternehmen oder in der Finanzierung von Verkehrsprojekten, kaufen verstärkt Pfandbriefe oder beteiligen sich an Immobilien. Eine zu hohe Mindestquote der regulatorisch vorgeschriebenen Eigenkapitalunterlegungen könnte die Anstrengungen zur Erschließung neuer Anlagefelder freilich massiv erschweren – oder in Teilen gar unmöglich machen.
Dass die Umschichtung auf neue Anlageschwerpunkte von den Versicherungen durchaus ernsthaft betrieben wird, bestätigt auch die BaFin: In ihrem Jahresbericht 2012 beziffert die Aufsichtsbehörde die allein im Vorjahr (2012) getätigten Investitionen der Versicherungsunternehmen in Unternehmensanleihen auf 2,2 Mrd. Euro. Damit erhöhte sich der von den Versicherern gehaltene Bestand an Unternehmenspapieren binnen Jahresfrist per Ende 2012 um 19 % auf 13,8 Mrd. Euro. Der Bestand an Immobilienanlagen wuchs um 4,6 % auf 31 Mrd. Euro. Und die indirekt über Fonds gehaltenen Beteiligungen erhöhten sich um 11 % auf 367 Mrd. Euro.
Auf neuen Wegen versuchen die Versicherer auch, ihre unter der Niedrigzinsphase leidenden Produkte so umzugestalten, dass sie auch künftig noch einigermaßen attraktiv für die Kundschaft bleiben. Mit den klassischen Lebensversicherungen, deren Garantiezins von mehr als 4 % in den 1980er-Jahren auf inzwischen 1,75 % abgeschmolzen ist, können die Versicherer immer weniger Kunden zufriedenstellen – auch wenn sie sich sehr darum bemühen, die Verwaltungskosten zu reduzieren – und die Provisionskosten zu limitieren.
„Flexibilisierung“ – unter diesem Begriff haben die Lebens- und Rentenversicherer höchst unterschiedliche neue Produktvarianten entwickelt: So bietet etwa die Allianz einen Vertrag ohne Garantiezins an – der allerdings mit einem um 0,3 Prozentpunkte erhöhten Betrag an der jährlichen Überschussbeteiligung teilhat. Andere Versicherer schließen Anpassungsklauseln in ihre Verträgen ein: Diese Möglichkeit eröffnet den Versicherten die Aussicht, nach einer Erhöhung des allgemeinen Zinsniveaus auch wieder höhere Zinsen bekommen zu können. In weiteren Varianten flexibilisierter Vertragsformen erhalten die Kunden die Optionen auf alle möglichen späteren Änderungen, Anpassungen und Umwandlungen ihrer Verträge.
Die im Zusammenhang mit der mittlerweile im vierten Jahr andauernden Niedrigzinsphase gelegentlich geäußerten Befürchtungen, die Verwerfungen auf dem Markt der Staatsanleihen und eines Teils der Bankpapiere könnten zu einem neuerlichen Schub der Konzentration in der Versicherungsbranche führen, haben sich – zumindest in Mitteleuropa – bislang nicht bewahrheitet: Die Zahl der Anbieter von Versicherungsdienstleistungen in Deutschland ist in den letzten Jahren nur geringfügig gesunken.
Die BaFin kommt in ihrem Jahresbericht 2012 zu dem – insbesondere für die Versicherten einigermaßen beruhigenden – Fazit: „Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen werden die Versicherer ihre Leistungsversprechen kurz- und mittelfristig erfüllen können. Das haben Stresstest und Prognose-Rechnungen der BaFin wiederholt bestätigt.“
Und langfristig? Die Branche setzt auf die Einsicht der Politik – und auf einen baldigen Einstieg in den Ausstieg aus der Niedrigzinspolitik, so GDV-Präsident Erdland – „bevor die gesellschaftlichen Kollateralschäden zu groß werden“.
09.12.2013 | 09:55