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Achtung Zinswende

Die Weltwirtschaft zieht an, die Zentralbanken agieren behutsam – vieles spricht dafür, dass sich unsere Favoriten an den Kapitalmärkten auch 2022 nicht ändern. Angesichts politischer Interessenkonflikte und hoher Inflation sollten sich Anleger aber auf größere Schwankungen einstellen. Ein Ausblick von dem mehrmals ausgezeichneten „Prognostiker des Jahres“, Top-Ökonom Michael Heise.

Das Jahr 2021 hat uns die erhoffte wirtschaftliche Erholung gebracht. Sie war aber schwächer als von den Prognostikern am Jahresbeginn erwartet. Trotz der Verfügbarkeit von Impfstoffen hat das Corona-Virus den Dienstleistungssektor erheblich gebremst und die globalen Lieferketten konnten mit dem starken Anstieg der Warennachfrage nicht Schritt halten. In Verbindung mit der deutlichen Verteuerung von Energie- und Rohstoffen hat das einen unerwartet kräftigen Inflationsschub ausgelöst, der die Zentralbanken vor schwierige Entscheidungen stellt. Fünf Entwicklungen kommen auf uns zu:

Erstens: Die Weltwirtschaft zieht wieder an

Das Wirtschaftsjahr 2022 startet weltweit unter schwierigen Bedingungen, geprägt von schwachem Wachstum und hoher Inflation. Diese sogenannte Stagflation wird uns aber nicht das ganze nächste Jahr begleiten. Wirtschaftliche Besserung ist in Sicht, zumindest dann, wenn die neue Virusvariante Omikron keine langanhaltende Lockdowns mit sich bringt.

Entscheidend für die Belebung der Wirtschaft wird sein, dass die Kapazitätsengpässe, etwa bei Halbleitern, natürlichen Rohstoffen oder Transportleistungen durch ein erhöhtes Angebot gemindert werden. Damit kann gerechnet werden, denn die hohen Preise versprechen gute Gewinnmargen und bieten einen starken Anreiz, in den Kapazitätsaufbau zu investieren.
An der Nachfrageentwicklung dürfte eine Beschleunigung des Wachstums in 2022 nicht scheitern. Zunächst werden die produzierenden Unternehmen den Auftragsstau abarbeiten, der sich in den vergangenen Monaten aufgrund der verschiedenen Produktionsbehinderungen aufgebaut hat. Zudem dürfte die Konsumnachfrage der privaten Haushalte weiter steigen, insbesondere im Dienstleistungssektor. In den meisten Regionen der Welt ist mit deutlichen Einkommenssteigerungen zu rechnen – angetrieben durch einen zunehmendem Beschäftigungsstand und rückläufige Arbeitslosigkeit.

Alles in allem dürfte die Weltwirtschaft nach schwachem Jahresbeginn im kommenden Jahr mit etwa fünf Prozent wachsen. Die Wachstumsraten der USA, Europas und Chinas nähern sich im Jahre 2022 deutlich an. Das ist vor allem auf eine unterschiedliches Zeitprofil der Konjunkturerholung nach Corona zurückzuführen.

Zweitens: Die EU steht vor politischen Herausforderungen
 

Auf der Bühne der Weltpolitik sind im aktuellen Jahr viele Aufgaben unerledigt geblieben und neue Herausforderungen hinzugekommen. 2022 wird wohl ein Jahr der Umsetzung, nicht großer, neuer Vereinbarungen werden. Weichenstellungen in der Klimapolitik oder auch die Einführung globaler Standards in der Steuerpolitik werden im Vordergrund stehen. Das Tempo des Fortschritts wird dabei nicht zuletzt von Deutschland und Frankreich abhängen, wo neue Regierungen antreten, die die Gunst der frühen Stunde nutzen könnten. Kompromisse mit den USA werden wichtiger, wenn Joe Biden weiter geschwächt werden sollte, weil weitere Sitze in den Parlamentswahlen verloren gehen.  

Zunehmende Spannungen dürften auch von den kräftig steigenden Leistungsbilanzdefiziten der USA und den steigenden Überschüssen Chinas ausgehen. Eine rasche Beilegung der handels- und technologiepolitischen Konflikte zwischen diesen Ländern ist eher unwahrscheinlich - zumal China mit zunehmenden Staatsinterventionen darangeht, seine wirtschaftliche Unabhängigkeit – im Sinne der Projekte „Made in China 2025“ oder des „dualen Wirtschaftskreislaufs“ – zu stärken und auch seine regionalen politischen Ansprüche deutlicher zu artikulieren. Diese Themen werden auch der EU eine schwierige Positionierung abverlangen.

Drittens: Die Zentralbanken leiten die Wende ein

Die großen Notenbanken der Welt werden ihre Politik in 2022 auf wieder beschleunigtes Wachstum und eine verhältnismäßig hohe Inflation einstellen müssen. Die Inflationsraten werden zwar etwas zurückgehen, aber noch für viele Monate deutlich über den Zielwerten der Notenbanken liegen. Daher werden weitere geldpolitische Korrekturen erforderlich werden.

Beim Ausstieg aus dem Krisenmodus werden die Zentralbanken allerdings behutsam vorgehen, um die Finanzierungsbedingungen für die Staaten und die Entwicklung der Finanzmärkte möglichst wenig zu beeinträchtigen. Zunächst wird das Wachstum der aufgeblähten Notenbankbilanzen zurückgefahren, danach sind Zinserhöhungen zu erwarten.
Die amerikanische Notenbank wird die monatlichen Anleihekäufe bis März beendet haben und wohl um die Jahresmitte mit ersten Zinserhöhungen beginnen. Die Europäische Zentralbank (EZB) wird ihr Krisenprogramm PEPP ebenfalls bis März beenden. Sie wird den Plafonds des Krisenprogramms nicht voll ausschöpfen, hat aber ihr Standardprogramm für Anleihekäufe etwas ausgeweitet. Sollte der Preisauftrieb in der Eurozone in den Jahren von 2022 und 2023 erneut stärker sein als in den Projektionen der EZB vorhergesehen, und das ist wahrscheinlich, dürften Ende des Jahres auch in der Währungsunion die ersten Zinssteigerungen anstehen.  

Die Folge dürften zumindest leicht steigende Kapitalmarktrenditen sein. Die Notenbanken werden zwar einen allzu schnellen Zinsanstieg verhindern, der die Finanzmärkte plötzlich durcheinanderwirbeln und „günstigen Finanzierungsbedingungen“ entgegenstehen würde. Aber einen graduellen Renditeanstieg werden sie durchaus tolerieren.

Viertens: Klimaschutz wird Top-Thema an den Finanzmärkten


Neben der Inflation dürfte auch die Nachhaltigkeit an den Finanzmärkten zum Top-Thema werden. Zahlreiche Initiativen wirken zusammen: Finale Entscheidungen in der EU, welche Aktivitäten als nachhaltig gelten dürfen, stehen aus. Besonders strittig ist dabei die  Nachhaltigkeit der Atomkraft, die viele Befürworter hat. Folgen für die Finanzmärkte haben auch die geplanten zusätzlichen Vorschriften und Regeln zur Offenlegung und Bilanzierung von ESG-relevanten Aktivitäten für die Unternehmen. Daran ist auch die EZB beteiligt, die Berichtspflichten für die Banken deutlich verschärfen sowie umfangreiche Stresstests in Bezug auf Klimarisiken verlangen wird. Finanzdienstleister werden durch die EU-Pläne auch verpflichtet, ihre Kunden auf ihre Nachhaltigkeitspräferenzen anzusprechen. Damit dürften der schon recht unübersichtlichen Vielfalt an nachhaltigen Produkten weitere hinzufügt werden, um der steigenden Nachfrage gerecht zu werden. Ratingagenturen, Verbraucherzentralen und Forschungsinstitute werden verstärkt darangehen, diese Angebote zu überprüfen, ob sie wirklich als „grün“ anzusehen sind. Die Unternehmen werden ihre Programme zur Reduktion von Schadstoffen und Energieverbrauch verstärken. Das ist höchst erwünscht, bindet aber auch Ressourcen, was am Ende auch zu höheren Preisen führt.  

Fünftens: Anleger suchen Inflationsschutz und müssen mit Schwankungen umgehen


Trotz der zu erwartenden leichten Renditesteigerungen werden Anleihen unter Renditegesichtspunkten keine attraktive Alternative zu Aktien oder anderen Sachwerten sein. Anleger werden weiterhin viel Kapital in reale Werte lenken, die einen gewissen Inflationsschutz bieten. Aktien, Beteiligungen, Immobilien und Gold werden dazu gehören, auch wenn diese Anlageformen Risiken mit sich bringen und schon recht teuer sind. Die Gefahr eines tiefen Kurseinbruchs wie in 2020 ist zwar nicht ganz auszuschließen, stellt aber ein „worst case Szenario“ dar, das nicht sehr wahrscheinlich ist. Auf eines dürfen sich Anleger allerdings gefasst machen: Die Geldpolitik wird nicht den Spielraum haben, die Finanzmärkte gegenüber allen negativen Entwicklungen so abzuschirmen, wie es in der Zeit nach der Corona-Pandemie der Fall war.

Das Narrativ, dass es die Geldpolitik schon richten wird, wenn Probleme auftreten, könnte ernsthafte Kratzer bekommen. Denn auch bei temporärer Verfehlung der Inflationsziele können die Notenbanken nicht immer die Dosierung ihrer Medizin erhöhen und weitere Stimulanzien einsetzen. Anleger sind also gut beraten, mit höherer Volatilität, also auch mit häufigeren Rücksetzern an den Märkten zu rechnen und die Inflationsdynamik genau zu beobachten.

Vor diesen Entwicklungen lautet mein Fazit: Die aktuellen „Stagflationssorgen“ werden im Laufe des Jahres 2022 überwunden werden. Die Versorgungslage bei industriellen Vorleistungen wird sich normalisieren und die Produktion wieder Fahrt aufnehmen. Mehr Nachfrage, vor allem im Dienstleistungsbereich, wird der verbesserten Arbeitsmarktlage und höheren Lohnsteigerungen zuzuschreiben sein. Allerdings wird die Inflation ein Thema bleiben, selbst wenn sich Energie- und Rohstoffpreise in etwa auf ihren aktuellen Niveaus stabilisieren. Das wird zu Kurskorrekturen der Geldpolitik und moderaten Zinssteigerungen an den Kapitalmärkten führen.

Für sachwertorientierte Anlagen bleiben die Bedingungen auch bei etwas erhöhtem Zinsniveau günstig. Sie bieten einen gewissen Inflationsschutz und versprechen ordentliche Renditen, auch wenn die Entwicklung der letzten anderthalb Jahre nicht fortgeschrieben werden darf. Da die Geldpolitik in einem etwas stärker inflationären Umfeld nicht mehr in bisherigem Umfang als „Schock-Absorber“ agieren kann, ist allerdings mit höheren Kursschwankungen im Laufe des Jahres zu rechnen. 

27.12.2021 | 15:37

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