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Das Märchen vom Mindestlohn

Kanzlerkandidat Scholz verlangt plakativ einen Mindestlohn von zwölf Euro. Die Forderung hat zwei Schönheitsfehler: Der Mindestlohn würde auch ohne Scholz in der nächsten Legislaturperiode auf etwa diesen Wert steigen. Und: Viele profitieren davon nicht, weil ihre Tarifmindestlöhne schon jetzt über dem Wert liegen oder sie ihren Status als Minijobber nicht aufgeben wollen.

Von Oliver Stock / WirtschaftsKurier

Es ist eine der zentralen Wahlkampfaussagen der SPD im Endspurt der Kampagne: „Zwölf Euro Mindestlohn“ steht auf ihren Plakaten und dazu blickt ernst der Kanzlerkandidat Olaf Scholz auf die Betrachter. Wer Scholz nach diesem Thema fragt, erhält zur Antwort, dies sei sein „wichtigstes Vorhaben“. Er wolle sich sofort daran machen, falls er bei einer neuen Regierung dabei ist. Was Scholz nicht an die große Glocke hängt: Auch wenn er nichts macht, steigt der Mindestlohn. Und was er ebenfalls nicht weiter erwähnt: Die „Millionen Menschen“, die davon profitieren, könnten bei genauer Zählung deutlich weniger werden.

Wieso das? Der Mindestlohn in Deutschland ist eine Erfindung aus dem Jahr 2015, wo er bei 8,50 Euro lag. Schon damals allerdings hatte sich die regierende Koalition aus Union und SPD darauf verständigt, dass der Mindestlohn laufend erhöht wird. Aktuell beträgt er 9,50 Euro. Vereinbart ist bislang eine Erhöhung in weiteren Schritten bis zum zweiten Halbjahr 2022 auf 10,45 Euro. Innerhalb von sieben Jahren ist der Lohn dann also um knapp 23 Prozent gestiegen. Schon bei einer weiteren linearen Steigerung in dieser Größenordnung liegt der Mindestlohn zum Ende der kommenden Legislaturperiode also bei knapp zwölf Euro. Groß anzustrengen braucht sich Scholz damit nicht, seine plakative Forderung erfüllt sich mit minimalem politischem Aufwand.

Dass der Aufwand nicht so groß ist, liegt auch daran, dass die Deutschen in der absoluten Mehrheit kein Volk von Mindestlohnempfängern sind. Die Zahl derjenigen, die von einem höheren Mindestlohn profitieren würden, bleibt deswegen überschaubar: Praktikanten, Auszubildende und ehemalige Langzeitarbeitslose gelten sowieso als Ausnahmen und müssen sich auch weiter im Zweifelsfall mit weniger Geld zufriedengeben. Und in den Branchen, in denen wenig bezahlt wird, haben sich die Tarifparteien auf eine Anhebung der Löhne verständigt, die stets über dem aktuellen Mindestlohn liegt. So erhöht sich in der Abfallwirtschaft der Branchenmindestlohn vom nächsten Monat an von 10,25 Euro auf 10,45 Euro. Ungelernte Dachdecker gehen seit Januar dieses Jahres bereits mit 12,60 Euro Stundenlohn nach Hause. Und auch im Elektrohandwerk wird seit Januar mit mindestens 12,40 Euro mehr bezahlt, als Scholz plakatieren lässt. Eine Punktlandung schaffen ungelernte Pflegekräfte in Ostdeutschland: Dort stieg der Mindestlohn in diesem Monat auf genau zwölf Euro.

Was der Mindestlohn wirklich bringt, dazu haben Arne Baumann und Oliver Buttel von der Informationsstelle für Mindestlohn in Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung eine Studie verfasst. Die beiden Wissenschaftler stellen fest, dass von der Einführung des Mindestlohns vor sechs Jahren vier Millionen Menschen profitiert haben, die bis dahin einen Stundenverdienst unterhalb von 8,50 Euro gehabt hatten. Die Erhöhung habe allerdings nicht automatisch zu einer Erhöhung der Monatslöhne geführt, schreiben die Wissenschaftler, weil Arbeitgeber in der Regel die Arbeitszeit verkürzen, wenn sie mehr pro Stunde zahlen müssen. So kommt es, dass bei geringfügig Beschäftigten der Anstieg der Monatslöhne nur knapp die Hälfte von dem widerspiegelt, was sich durch den Anstieg der Mindestlöhne ohne Arbeitszeitverkürzung eigentlich ergeben müsste. Ganz unrecht ist das den Betroffenen oft auch nicht: Viele wollen als Minijober abgabenfrei arbeiten, weswegen sie nicht mehr als 450 Euro im Monat verdienen dürfen. Für Beschäftigte mit Minijobs, die die Verdienstgrenze nicht überschreiten wollen, um nicht in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu wechseln, bringt eine Erhöhung des Mindestlohn damit keine Verbesserung des Monatslohns, sondern sorgt für eine Senkung der Arbeitszeit. Auch das müsste Scholz erwähnen, wenn er das Thema nicht nur plakatiert, sondern auch diskutiert.

Der von Arbeitgeberseite oft beschworene Effekt, dass Stellen verschwinden, lässt sich allerdings auch nicht wirklich belegen. Die Autoren der Studie stellen beim Blick auf den Arbeitsmarkt lediglich „einen leicht negativen Effekt aufgrund der Einführung des Mindestlohns“ fest, der sich vor allem aus der verringerten Anzahl geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse speist. Es gebe keine „statistisch signifikante“ Auswirkung des gesetzlichen Mindestlohns auf die Entwicklung der Arbeitslosigkeit.

Die Hoffnung, dass der Mindestlohn zu einem Rückgang der Anzahl der Empfängerinnen und Empfänger von staatlichen Zahlungen ohne Gegenleistung führen könnte, erfüllte sich allerdings ebenfalls nur in Ansätzen. Die Zahl der Hartz IV-Empfänger ist mit Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 2015 um 4,3 Prozent gesunken und damit nur etwas mehr als im Zeitraum von 2011 bis 2014, in dem sie durchschnittlich um 1,5 Prozent fiel. Nach Einschätzung der Studienautoren liegt das daran, dass überhaupt nur rund drei Prozent aller Hartz IV-Empfänger in Vollzeit beschäftigt sind und von einer Anhebung voll profitieren können. Der Mindestlohn als Mittel, die Armut in Deutschland zu bekämpfen – das sei ein rezept, das nicht funktioniere, stellen die Wissenschaftler fest.

Wie frei Scholz bei der Festsetzung des Mindestlohns agieren kann, hängt auch von der EU ab. Mit dem Amtsantritt der aktuellen Europäischen Kommission unter Leitung von Ursula von der Leyen war das Thema in den Fokus gerückt. Zwar will die Kommission weder einen einheitlichen europäischen Mindestlohn noch eine Angleichung der Systeme zur Festsetzung der Mindestlöhne erreichen. In der Diskussion ist aber beispielsweise eine einheitliche Untergrenze für die nationalen Mindestlöhne, die sich am Durchschnittslohn des jeweiligen Landes orientiert.

09.09.2021 | 13:51

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