(Foto: Photographee.eu / Shutterstock)



Karrierealle Jobs


Das Rentensystem ist eine Wette. Die Chancen stehen schlecht, dass es hält

Rentner sind sauer, dass sie vom Entlastungspaket der Bundesregierung weniger profitieren als andere. Doch die wahre Kritik müsste sich anderswo entzünden: Das Rentensystem wankt und die einzige konkrete Maßnahme, um es zu stabilisieren, die Aktienrente, hat die Koalition bis auf weiteres verschoben.

Von Oliver Stock / WirtschaftsKurier

Die Analyse ist glasklar und kommt beispielsweise von den Ökonomen des Ifo-Instituts: Das bestehende System der gesetzlichen Rentenversicherung, so schreiben sie, bricht zusammen, wenn die Politik sich nicht durchringt, an drei Schrauben zu drehen: Entweder werden die Rentenversicherungsbeiträge oder die steuerfinanzierten Bundeszuschüsse an die Rentenversicherung angehoben. Oder: Die Renten werden gesenkt. Oder, dritte Möglichkeit: Die Lebensarbeitszeit wird verlängert. Im ersten Fall trägt allein die jeweilige Erwerbsgeneration die Last, im zweiten Fall die jeweilige Rentnergeneration und im dritten Fall die künftigen Rentnerinnen und Rentner. Es lassen sich auch alle Lösungen miteinander vermischen und eine zusätzliche aktienfinanzierte Rente einführen, aber eine völlig andere Lösung, so die Wissenschaftler, gibt es einfach nicht.

Das Problem: Obwohl die Analyse eindeutig ist, passiert trotzdem nichts, was das Rentensystem festigt. Im Gegenteil: Aus Sicht der Rentenversicherung läuft alles in die falsche Richtung. 2022 sollen Rentnerinnen und Rentner die höchste Rentenerhöhung seit Jahrzehnten erhalten. Im Westen steigen die Renten zum 1. Juli um 5,35 Prozent und im Osten um 6,12 Prozent. Auch diejenigen, die wegen Arbeitsunfähigkeit eine Erwerbsminderungsrente erhalten, sollen vom Juli 2024 mehr Geld bekommen. 7,5 Prozent werden es hier sein.

Die Rentenanpassung beruht auf Lohnsteigerungen, sie betragen in den alten Ländern 5,8 Prozent und in den neuen Ländern rund 5,3 Prozent. Darüber hinaus wird die Entwicklung der Löhne und Gehälter berücksichtigt, von denen Rentenversicherungsbeiträge gezahlt werden, und es wird bei der Berechnung der Rentenerhöhung auch noch der sogenannte Nachhaltigkeitsfaktor berücksichtigt. Das ist die Entwicklung des zahlenmäßigen Verhältnisses von Rentenbeziehern zu Beitragszahlern, also die Antwort auf die Frage: Wie viele Rentner gibt es, und wie viele zahlen in die Rentenkasse ein? Für 2022 wirkt sich der Nachhaltigkeitsfaktor mit plus 0,76 Prozentpunkten positiv auf die Rentenanpassung aus, die Zahl der Beitragszahler ist dank Zuwanderung leicht gestiegen – immerhin ein Lichtblick.

Auch 2023 gibt es laut Schätzung eine deutliche Erhöhung der Renten. Im Westen könnten die Altersbezüge um 4,9 Prozent steigen, im Osten um 5,7 Prozent. Allerdings sind die Annahmen zur wirtschaftlichen Entwicklung und somit auch zu den Rentenfinanzen von Unsicherheit geprägt, da die Entwicklung von den Auswirkungen der Pandemie und des Krieges abhängen.
Die satten Zuwächse, die das System an sich überfordern, sind auch der Grund, weswegen Rentner beim Entlastungspaket der Bundesregierung in einer Hinsicht leer ausgehen: Sie bekommen nicht wie der erwerbstätige Teil der Bürger eine einmalige Pauschale von 300 Euro brutto, um die stark gestiegenen Energiekosten abzufedern. Die Ampelkoalition verteidigt diese Haltung und verweist eben auf die kräftigen Rentenerhöhungen in diesem und nächstem Jahr.

Unter die Räder gekommen sind die Rentner allerdings anderswo, worüber in der Bundesregierung eher geschwiegen wird: Im mehreren 1000 Seiten dicken Entwurf zum Haushaltsplan steht genau, wofür dieses Jahr Geld locker gemacht werden soll. Eine Summe allerdings, auf die sich die Ampelkoalition vor Beginn ihrer Regierungsarbeit verständigt hatte, fehlt: Es geht um zehn Milliarden Euro, die die Bundesregierung als Anschubfinanzierung in die teilweise kapitalgedeckte Altersvorsorge stecken wollte. Eigentlich war geplant, das Geld nach schwedischem Vorbild bereit zu stellen und in den Folgejahren aufzustocken, um schließlich zwei Prozent der Rentenbeiträge am Kapitalmarkt zu investieren und aus möglichen Gewinnen das Rentensystem abzusichern. Vor allem die FDP und ihr Parteichef und Bundesfinanzminister Christian Lindner hatten für diese Form der Aktienrente geworben.

Daraus wird erst einmal nichts. Wegen der hohen Ausgaben, die die Bundesregierung vorhat, um die Bundeswehr aufzurüsten, müssen neue Sicherungssysteme für die Rente warten. Allein die zusätzlichen Rüstungskosten verschlingen 100 Milliarden Euro. Die Aktienrente fällt dieser Entwicklung bis auf weiteres zum Opfer. Wann sie kommt? Auf Anfrage der „Wirtschaftswoche“ teilte das Bundesministerium für Finanzen jüngst schwammig mit: „An dem Projekt Aktienrente wird intensiv gearbeitet, es bleibt integraler Teil der Rentengesetzgebung der Koalition. Sobald es etatreif ist, kommt es auch in den Haushalt.“ Immerhin: Johannes Vogel, parlamentarischer Geschäftsführer der FDP, dementierte ein endgültiges Aus. Der haushaltspolitische Sprecher der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Sebastian Brehm, kritisiert dennoch, dass Bundesfinanzminister Lindner „für die Zukunft unserer Altersversorgung plötzlich kein Geld übrighat“. So schnell werfe die FDP ihre Grundsätze über Bord.

Thomas Richter, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands Investment und Asset Management (BVI), sagte ebenfalls der „Wirtschaftswoche“: „Der Einstieg in die teilweise Kapitaldeckung in der gesetzlichen Rente ist dringend erforderlich, um die wachsende Abhängigkeit des Rentensystems von Steuerzuschüssen mittelfristig zu verringern.“ Die Einführung der Aktienrente dürfe „nicht verschleppt werden“.

SPD-Kanzler Olaf Scholz fährt damit in der Rentenpolitik einen riskanten Kurs: Im Koalitionsvertrag ist auf Betreiben seiner Partei festgeschrieben, dass keine weitere Anhebung des Rentenalters über 67 Jahre hinaus stattfinden soll. Zudem wird ein Rentenniveau von 48 Prozent dauerhaft garantiert, und der Beitragssatz soll in dieser Legislaturperiode nicht über 20 Prozent steigen. Gelingen soll diese Quadratur des Kreises durch eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren, und durch mehr „qualifizierte“ Einwanderung. Ob das reicht, ist eine Wette: Standen in den 2010er-Jahren noch jedem Rentenbezieher statistisch drei Beitragszahler gegenüber, so werden es 2030 nur noch 2,6 sein. Einschneidende Reformen werden aber immer schwieriger, da die steigende Zahl der Rentner auch eine steigende Zahl älterer Wählerinnen und Wähler bedeutet. Und die dürften kaum für Parteien stimmen, die etwas gegen ihre Interessen als Ruheständler unternehmen wollen.

02.05.2022 | 12:59

Artikel teilen: