Deutschen wohnen immer enger
Die Platznot im eigenen Heim nimmt für immer mehr Menschen in Deutschland zu. Familien suchen händeringend ausreichen Wohnraum, alte Menschen besitzen ihn oft. Der Streit darüber droht die Gesellschaft zu spalten. Wie die Misere am Wohnungsmarkt zu lösen ist.
„Schafft euch Inseln.“ So lautet der wesentliche Tipp einer großen Möbelhauskette auf ihrer Website für die Einrichtung kleiner Wohnungen. „Funktionalität ist das A und O.“ Und: „Jedes Wohnzimmer hat das Zeug zu einem wunderbaren Schlafzimmer.“ Immer mehr Großstadtbewohner wissen, wie es ist, wenn die Schlafcoach zusammengeklappt gleichermaßen Arbeitsplatz und Wohnzimmereinrichtung darstellt. Die Zahl der Menschen, die hierzulande auf engem Raum leben, steigt nämlich spürbar an.
Durchschnittlich sind die 43,1 Millionen Wohnungen in Deutschland 92 Quadratmeter groß und verteilen sich auf 4,4 Wohnräume – so das Statistische Bundesamt. Jeder Deutsche kommt so auf 41 Quadratmeter Wohnfläche. Wer 81 zur Verfügung hat, gehört zu den oberen zehn Prozent. Diese Durchschnittswerte klingen durchaus üppig. Doch es gibt da ein Problem, das die Gesellschaft immer mehr beschäftigt: Die Wohnungsgrößen sind sehr ungleich verteilt. Viele leben auf großen Fuß, und für immer mehr nimmt die Enge zu. Rentner haben nach dem Auszug der Kinder reichlich Raum zur Entfaltung und auch gutverdienende Singles leisten sich gern ein extra Arbeitszimmer oder einen Raum für Gäste. Woanders hausen dagegen mehrere Kinder in einem kleinen Raum.
Schere geht auseinander
„Mismatch im Wohnungsmarkt“ nennt das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) aus Köln den Zustand hierzulande und drückt in einer umfangreichen Analyse mit Zahlen aus, was für viele tägliche Realität ist: 6,5 Prozent der Haushalte in Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern leben in beengten Wohnverhältnissen. Per Definition gilt als „beengt“, wenn es mehr Bewohner als Zimmer gibt. Umgekehrt bedeutet „zu viel Platz“, wenn die Zahl der Wohnräume die der Haushaltsmitglieder um drei oder mehr übersteigt – also zum Beispiel ein Single in einer Vierzimmerwohnung. Diese Quote liegt bei 6,2 Prozent – ist also ähnlich hoch wie die der „beengt“ lebenden Haushalte. Zwei Gruppen stechen besonders heraus: Von den über 70-jährigen leben rund 9 Prozent mit sehr viel Platz. Und jede dritte Familie hat 2020 in einer überbelegten Wohnung gelebt. Aktuellere Zahlen gibt es noch nicht. Durch Corona und vor allem die Energiekrise könnte sich da einiges ändern, gibt das IW zu. Allerdings eher nicht zum Besseren.
Wenn sich das Verhältnis von benötigtem zum verwendeten Wohnraum besser verteilen soll, müssen die verzichten, die mehr Raum einnehmen, als sie bräuchten. Schließlich leben vor allem in den Großstädten ähnlich viele Parteien in Wohnungen, die für sie zu groß sind, wie umgekehrt. Doch ein Austausch findet nicht statt, weil er sich finanziell nicht lohnt. Schließlich besitzen gerade ältere Menschen Mietverträge, die aus grauer Vorzeit stammen und entsprechend attraktive Bedingungen bieten. Dass eine hohe Zahl an Menschen aufgrund höherer Energiepreise ihre großen Wohnungen verlassen, ist auch eher unwahrscheinlich. Schließlich haben sie ja die Option, nicht benötigte Zimmer nicht mehr zu heizen.
Die Misere wäre auf drei Wegen abzumildern – von einer Lösung zu sprechen wäre allerdings arg optimistisch: „Es gibt großes Potential, die Wohnungsnot in den Großstädten zu entspannen“, sagt Studienautor Michael Voigtländer vom IW, schränkt aber gleichzeitig ein: „Es zu heben ist nicht einfach.“ Die erste mögliche Lösung setzt beim deutschen Miet- und Steuerrecht an, das laut Experten Umzüge eher verhindert als fördert. Der Gesetzgeber könnte zum Beispiel Vermietern erlauben, die Bestandsmieten für eine gewisse Gruppe an Mietern zu erhöhen. Eben mit dem Ziel, mehr Fluktuation auf dem Wohnungsmarkt zu bekommen. Experten wie Michael Voigtländer halten das aber für eine theoretische Idee: „Das ist politisch nicht durchsetzbar.“ Seine Schlussfolgerung aus den Zahlen ist eine andere: „Wir brauchen mehr Neubau.“
Womit wir bei der zweiten potenziellen Lösung wären: bauen, bauen, bauen. Das zeigt auch ein Blick in die Geschichte. Laut IW war die Lage Anfang der Neunzigerjahre sogar angespannter als heute. 9,3 Prozent der Haushalte waren in der Definition in „beengten“ Wohnverhältnissen. Im Rahmen der Neubauoffensive ab 1994 wurde das besser. 600.000 Wohnungen entstanden neu und von 2008 bis 2012 lebte sogar ein größerer Anteil der Haushalte in zu großen als in zu kleinen Wohnungen. Erst danach kehrte sich das Verhältnis wieder um.
Nun steht im Koalitionsvertrag der Regierung das Ziel von 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr. Bauministerin Klara Geywitz (SPD) musste vor kurzem aber einräumen, dass die diese Zahl nicht zu erreichen ist. Von Januar bis November 2022 wurden 321. 575 neue Wohnungen genehmigt. Ob diese Einheiten auch tatsächlich gebaut werden, ist damit nicht gesagt. Und in Baugenehmigungen kann man bekanntlich nicht wohnen. Was dazu gar nicht passt, ist, dass Fördermittel für Neubauten zusammengestrichen wurden: von gut 10 Milliarden Euro in 2022 auf 1,1 Milliarden Euro in diesem Jahr.
Die dritte potenzielle Lösung ist nur bedingt durch Gesetze oder andere politische Impulse zu lösen: Freiwilligkeit. Die Hoffnung wäre, dass mehr Menschen im Hinblick aufs Wohnen ein ökologisches sowie soziales Gewissen entwickeln und sagen: Wenn ich auf weniger Fläche wohne, tue ich nicht nur etwas gegen den Klimawandel, sondern helfe auch einer Familie. Vereinzelt versuchen Städte schon, Altruisten und Bedürftige zusammenzubringen. In Berlin gibt es seit 2018 eine Tauschbörse initiiert von den sechs landeseigenen Wohnungsgesellschaften. Mieter können hier sogar ihre bisherige Quadratmeterkaltmiete behalten.
Die Bilanz: Bei einem Bestand von insgesamt 360.000 Wohnungen erklärten sich 908 Mietparteien zu einem Tausch bereit. Ein Sprecher des Verbands Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen nennt als einen der Gründe für diese dürftige Bilanz: „Auf eine verkleinerungswillige Mietpartei kommen circa fünf Vergrößerungswünsche.“ Auch eine Umzugshilfe von 3500 Euro habe nichts geholfen. Viele werden also weiter gute Ratschläge vom Möbelhaus ihres Vertrauens brauchen: „Zum Unterteilen der Bereiche Möbel oder Vorhänge nutzen und Stauraum in die Höhe planen.“
Thorsten Giersch
26.01.2023 | 12:27