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Deutschland ertrinkt in Flüssiggas

Als die Krise auf den Gasmärkten groß war und vor allem kein russisches Erdgas mehr ankam, schwenkte Deutschland um und setzt seither auf Flüssiggas, das aus den USA, Kanada und dem Mittleren Osten geliefert wird. Doch jetzt zeichnet sich ab: Deutschland baut eine völlig überdimensionierte Flüssiggas-Infrastruktur. Es wird mit mehr Gas geplant, als je verbraucht wurde. Die Kosten tragen alle.

Vor einem Jahr hat die Welt so ausgesehen: Gas wurde stündlich teurer, die Lieferungen aus Russland täglich weniger und Minister wie Robert Habeck begaben sich auf Welttournee, um neue Lieferanten ausfindig zu machen. Statt durch Pipelines aus Russland, sollte der Rohstoff in flüssigem Zustand als LNG (Liquefied Natural Gas) per Schiff aus dem Westen oder Mittleren Osten kommen. Die deutschen Einkäufer waren erfolgreich, was nicht verwunderte: Schließlich hatte Deutschland den Produzenten und Händlern seine tiefen Taschen gezeigt, und da ließ sich mancher nicht lange bitten. Die notwendigen Terminals für LNG-Tanker werden seither gebaut als gäbe es kein Morgen. Das über die Meere ankommende Flüssigerdgas erfordert spezielle Prozesse, um es zu entladen. Und auch die Verflüssigung des Gases, das dafür von etlichen Bestandteilen gereinigt und auf mehr als minus 160 Grad Celsius heruntergekühlt werden muss, kostet erheblich Energie – man spricht von bis zu einem Viertel des gesamten Energiegehalts des Gases. Dafür kann der Stoff dann per Tanker über weitere Strecken und anschließend auch mit Tankwagen, Waggons oder kleineren Schiffen weitertransportiert werden. Europa und besonders Deutschland besaßen vor dem Ausbruch des Ukrainekrieges und den Sanktionen gegen Russland keine ausreichenden Kapazitäten, um ihren Bedarf an Gas auf dem Weg über die Weltmeere zu decken.

Das wurde bald anders. In Rekordzeit baute Deutschland das erste schwimmende Terminal bei Wilhelmshaven: Von Mai bis November 2022 errichtet, arbeitet es seit Januar 2023 regulär. Inzwischen wurden weitere Terminals – Entladestellen – in Brunsbüttel und Lubmin eröffnet, und ein schwimmendes Terminal bei Stade ist ebenso im Bau wie Erweiterungen der bestehenden Anlagen. Die Flüssiggas-Importe tragen bereits einen Anteil von sieben Prozent an der Gasversorgung, Tendenz stark steigend. Mittlerweile allerdings wird so manchem mulmig angesichts der absehbare Überversorgung und dem Preis, den das ganze kostet. Bill Hare, Chef des Klimadatenanbieters Climate Analytics, sagte gegenüber der britischen Zeitung „The Guardian", die Welt sei beim Versuch, die Lücke, die das fehlende russische Gas reißt, zu schließen, „über das Ziel hinausgeschossen". Das Volumen der Importkapazitäten das derzeit In Europa geschaffen werde, übertreffe bei weitem den Bedarf.  

Und es stimmt: Die bestehenden und für die nächsten Jahre zusätzlich geplanten LNG-Terminals sind mehr als genug, um den Bedarf Deutschlands zu decken; die Menge der früheren Gasimporte über russische Pipelines wird bei weitem übertroffen. Während Bundeswirtschaftsminister Habeck bereits mitteilte, zusätzliche 1,6 Milliarden Euro für die Bauten und Ausbauten zu benötigen, ist von Abstrichen am Programm nicht die Rede. Für Krisenzeiten gedacht, dürften die Importkapazitäten, geschätzt auf bald 77 Milliarden Kubikmeter pro Jahr, in Kürze mehr liefern als überhaupt verbraucht wird. Vor allem angesichts der deutschen Klimaziele ist das heikel: Denn der Beitrag von Gas zur Energieversorgung soll ja eher sinken als steigen. LNG ist auch im Fokus zahlreicher Umweltverbände, wegen seines hohen eigenen Energieverbrauchs, noch ehe überhaupt etwas davon verfeuert werden kann. Zu den 77 Milliarden kommen nochmals 40 bis 50 Milliarden Kubikmeter, die europäische Partnerländer liefern können. Der Wettlauf ist also eröffnet.

Falls alle Pläne unverändert in die Praxis umgesetzt werden, ertrinken Deutschland und Europa demnächst in Flüssiggas. Bis 2030 entstehen Kapazitäten für 400 Milliarden Kubikmeter pro Jahr, so das Institute for Energy Economics and Financial Analysis (IEEFA). Der gesamte Bedarf der Europäischen Union betrug demnach 2019 ganze 413 Milliarden Kubikmeter, die ohne große Flüssiggas-Kapazitäten ankamen. Nur gut die Hälfte davon stammte aus Russland und wird nun nicht mehr geliefert.

Angesichts des Umsteuerns bei der Energieversorgung könnten die Europäer demnächst problemlos als Wiederverkäufer auftreten, wäre dies nicht eine Preisfrage. Deutschland kauft teurer ein, als die meisten anderen Länder. Ein Wiederverkauf wäre ein gigantisches Verlustgeschäft. Außerdem kommt auf dem Umweg über die Tankerflotte inzwischen auch wieder vermehrt russisches Erdgas nach Europa. Wichtigster Abnehmer davon ist Frankreich. Die Prognosen der großen Energieagenturen gehen davon aus, dass mit mehr als sechzig bestehenden Anlagen 2030 weniger als die Hälfte der LNG-Terminals noch betrieben werden wird, denn der Bedarf soll EU-weit auf rund 190 Milliarden Kubikmeter zurückgehen. Auch in Deutschland wäre viel Gas dann nicht nur flüssig, sondern überflüssig. Sollten die Bemühungen, Gasheizungen in Privathaushalten, wenn nicht zu verbieten, so doch mittelfristig auslaufen zu lassen, von Erfolg gekrönt sein, verringert sich die Nachfrage noch weiter. Und auch die Industrie arbeitet daran, ihre Energieversorgung zu diversifizieren – von Wärmepumpen bis Wasserstoff reicht die Palette. Deutschland gehört dabei bislang nicht einmal zu jenen Nationen, die in ganz großem Stil LNG importieren. Das sind unter anderem Großbritannien, Frankreich und Spanien. Dort entstehen denn auch noch weit höhere Importkapazitäten als hierzulande. Aber der Überschuss wird nicht nur dort noch zu heftigem politischen Streit führen.

Schon jetzt sind die Pläne aus dem Wirtschaftsministerium vor allem bei der Partei des Ministers eher skeptisch beäugt worden: Man zementiere die Gasabhängigkeit für die Zukunft, so die Kritik der Grünen, die auch von den Umweltverbänden vorgebracht wird. Spätestens seit der 1,6-Milliarden-Euro-Nachforderung aus dem Ministerium ist auch die CDU/CSU-Opposition aufgebracht: Der zusätzliche Bedarf sei nur entstanden, weil man bei den Planungen schlampig gearbeitet habe und offenkundige Kosten einfach vergessen worden seien. In der Tat rechnen die Ministerialen mit annähernd gleichbleibend hohem Bedarf und addieren einen großzügigen Sicherheitspuffer – nicht berücksichtigt werden bei den Projektionen die Liefermöglichkeiten von Partnerländern oder auch der absehbare Nachfragerückgang bei bisherigen deutschen Exportkunden, zum Beispiel Polen. Das Energiewirtschaftliche Institut an der Universität zu Köln (EWI) hat im Auftrag der Bundesregierung hingegen in einer Studie ermittelt, dass unter bestimmten Annahmen ab 2030 nur 16 bis 38 Prozent Auslastung der Terminals zu erwarten seien. Mithin dürfte es nagelneue Investitionsruinen vor der Nord- und Ostseeküste zu besichtigen geben. Vielleicht ist man eines Tages jenen Bürgern in Mecklenburg-Vorpommern für ihren Weckruf dankbar, die sich in allen Umfragen zum Thema mit großen Mehrheiten gegen ein weiteres schwimmendes LNG-Terminal vor der Insel Rügen aussprechen.

Reinhard Schlieker

30.03.2023 | 13:04

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