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Verblüffend: Die Kernenergie erlebt ein globales Comeback

Zehn Jahre nach der Katastrophe von Fukushima erlebt die Kernenergie ein erstaunliches Comeback. Immer mehr Länder bauen neue Atommeiler. Auch um das Klima zu schützen. Nun kommt noch eine neue Super-Technologie für Mini-Atomkraftwerke. Verpasst Deutschland die Lösung des Klima- und Energieproblems?

Von Wolfram Weimer

Die internationale Atomenergiebehörde (IAEA) meldet Erstaunliches: Es gibt einen weltweiten Boom der Kernkraft. Nicht weniger als 51 neue Atomkraftwerke sind derzeit im Bau. Im ersten Halbjahr 2021 sind drei neue AKWs in Indien, Pakistan und China ans Netz gegangenen, und nun kommen im Monatstakt neue dazu. Während Deutschland ein Atomkraftwerk nach dem anderen abschaltet (bis Ende 2021 müssen Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen vom Netz), macht der Rest der Welt genau das Gegenteil. Alleine in China sind 13 neue Kernkraftwerke im Bau. Aber auch Indien setzt massiv auf Atomenergie und hat jetzt 6 neue Meiler im Bau. Das kleine Südkorea baut 4 neue Kernkraftwerke.

Doch nicht nur die Wirtschaftsgroßmächte investieren massiv, immer mehr Länder haben sich seit dem Unglück von Fukushima für den Neu-Einstieg, darunter die Türkei, die Arabischen Emirate, Polen, Bangladesh, Ägypten, Jordanien, Nigeria und Vietnam. Laut Internationaler Atomenergiebehörde IAEA wollen derzeit 28 Staaten neu in die Kernkraft einsteigen.

Ein Grund für das verblüffende Comeback der Kernenergie ist die globale Klimadebatte. Atomenergie erzeugt keine klimaschädlichen Emissionen und kann nach Überzeugung des IAEA-Chefs Rafael Grossi, dem Kampf gegen den Klimawandel zum Durchbruch verhelfen: „Ein Erreichen der globalen Klimaziele ist ohne Atomkraft nicht möglich. Kernenergie ist Teil der Lösung." Grossi hält Deutschlands Ausstieg für einen „einmaligen Sonderweg“, der in Bezug auf das Klima und das Zwei-Grad-Ziel nicht wissenschaftlich begründbar sei. Man brauche Kernenergie für eine stabile Stromversorgung, die den weniger konstanten erneuerbaren Strom aus Wind, Wasser oder Sonne unterstützen könne.

In Europa bauen derzeit Finnland, Großbritannien, Polen, Russland, die Ukraine, Frankreich, Weißrußland und die Slowakei neue Kernkraftwerke. Insgesamt erzeugen die USA mit 94 Anlagen (2 neue stehen in Bau) am meisten Atomstrom, vor Frankreich (56 Reaktoren), China (49 Reaktoren) und Russland (38 Reaktoren).
Im Rahmen des globalen Comebacks hat sich auch Japan für eine Rückkehr zur Atomkraft entschieden. Ungeachtet des Atomunglücks von Fukushima müsse man erkennen, dass Atomenergie eine wichtige Energiequelle der Zukunft sei, heißt es aus der Regierung in Tokio. Tatsächlich fährt Japan nicht nur seine alten Meiler wieder hoch sondern baut sogar zwei völlig neue.

Auch die unmittelbaren Nachbarn Deutschlands wollen die Atomenergie ausbauen. So wird Polen eigene Atomenergie erzeugen und plant sechs Atomkraftwerke, zwei davon an der Ostseeküste. In der engsten Auswahl sind die Orte Belchatow, Patnow, Zarnowiec und Lubiatowo-Kopalino.

Vor allem Frankreich setzt massiv auf Atomenergie und hat die Laufzeiten für die 32 ältesten Reaktoren auf 50 Jahre verlängert, ein neuer Reaktor ist in Flamanville im Bau. Frankreich deckt mehr als 70 Prozent seines Energiebedarfs durch Atomkraft - das ist der höchste Anteil weltweit, noch vor den USA. Frankreichs Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire erklärt, dass Europa die CO2-Neutralität bis 2050 „nicht ohne die Kernkraft erreichen werde". Alle europäischen Partner müssten verstehen, dass die Atomkraft zu den wesentlichen Grundlagen der Wettbewerbsfähigkeit und der Souveränität Frankreichs, aber auch der europäischen Energie-Souveränität gehöre. „Wir sind auf gutem Weg zu gewährleisten, dass die Nuklearenergie als CO2-freie Energie anerkannt wird, die zur grünen Finanzierung in Europa berechtigt ist", sagte Le Maire. Frankreich hat trotz seiner langen Meeresküsten keine einzige Off-Shore-Windkraftanlage, der Anteil der erneuerbaren Energien ist gering. Und doch stößt das Land viel weniger CO2 aus, die Kernenergie macht es möglich.

Auch in Deutschland verändert sich durch die Klimadebatte die Einstellung zur Kernkraft. Nach einer neuen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach will eine Mehrheit der Bundesbürger, dass man deutsche Kernkraftwerke lieber länger laufen lässt und dafür Kohlekraftwerke schneller abzuschalten. 42 Prozent der Befragten stimmt diesem zu, 34 Prozent lehnen eine Verlängerung der Laufzeit für Kernkraftwerke ab. Das Institut Ciney hat wiederum ermittelt, dass 47 Prozent der Deutschen der Ansicht sind, es solle weiterhin Atomkraft zur Stromerzeugung eingesetzt werden, um die Klimaschutzziele der EU zu erreichen. 44 Prozent lehnten dies ab und 9 Prozent waren unentschlossen.

Auch Großbritannien hat die Kernenergie zum zentralen Baustein im „Aktionsplan zur Entkarbonisierung“ erklärt. Der Ausstoß von Treibhausgasen soll bis 2050 komplett beendet. Dazu will man nun auch neue Mini-Atomreaktoren bauen. 15 dieser von Rolls-Royce geplanten Reaktoren mit einer Kapazität von 440 Megawatt - genug um eine 500.000-Einwohner-Stadt zu versorgen - sollen in den kommenden neun Jahren ans Netz gehen.

Das Zauberwort dafür lautet „SMR“. SMR steht für Small Modular Reactors, die vor allem in Russland, den USA und Großbritannien mit neuer Technologie aufwarten. In Washington setzt die neue Biden-Regierung offensiv auf SMRs. Das Unternehmen NuScale entwickelt eine Technik, bei der mehrere kleine Reaktoren in einem kühlenden Wasserbecken installiert werden. Um einen Testbetrieb möglich zu machen, subventionierte das US-Energieministerium das Vorhaben im Oktober mit 1,4 Milliarden Dollar. In Kalifornien arbeiten derzeit gut 50 Start-ups an der Entwicklung neuer Nukleartechnologien. Experten sprechen schon vom „Nuclear Valley“, das auf das „Silicon Valley“ folgen werde. Dabei experimentieren die Ingenieure mit neuartigen Kühlmethoden wie dem Einsatz von flüssigem Natrium.

Stark engagiert bei der neuen Generation von Mini-Akws ist auch die Nuklearfirma TerraPower, die von Multimilliardär Bill Gates gegründet wurde und Atommüll als Brennstoff nutzen will. „Wir meinen, ein Modell entwickelt zu haben, bei dem alle wichtigen Probleme gelöst sind", schreibt der Unternehmer in seinem neuen Buch. Bis 2050 will TerraPower „Hunderte dieser Reaktoren auf der ganzen Welt sehen, die verschiedene Energiebedürfnisse lösen", meint TerraPower-CEO Chris Levesque. Die 345-Megawatt-Anlagen werden mit flüssigem Natrium gekühlt und jeweils etwa eine Milliarde Dollar kosten. Das erste soll auf dem Gelände eines stillgelegten Kohlekraftwerks im US-Bundesstaat Wyoming entstehen. Starinvestor Warren Buffet ist mit von der Partie.

Während die Amerikaner an neuer Natrium-Technik forschen, setzen die Russen ihre Atomschiffe bereits als SMRs ein. Die „Akademik Lomonossow“ ist so ein schwimmendes Atomkraftwerk. Das russische Schiff, das nahe der Stadt Pewek am Nordpolarmeer vor Anker liegt, soll in den kommenden 40 Jahren die abgelegene Region mit Strom versorgen. Mit seinen zwei Mini-Reaktoren sei das Schiff das erste SMR-Kraftwerk der Welt, schreibt die Internationale Atomenergie-Organisation. Weltweit wachse das Interesse an der SMR-Technik. Nach Angaben der IAEA befinden sich derzeit 84 Reaktoren in 18 Ländern in der Entwicklung oder im Bau. Deutschland, das einst in der Atomtechnik weltführend war und gerne Klimaretter sein will, sieht plötzlich ziemlich alt aus.

22.07.2021 | 11:52

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