(Foto: Picture Alliance / Jochen Tack)



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Die LKW-Schlitzer wetzen unbehelligt ihre Messer

In Deutschland ist die Zahl der Überfälle auf parkende Lastwagen und ihre schlafenden Fahrer auf eine Rekordzahl gestiegen. Perfekt organisierte Banden checken blitzschnell, ob die LKW-Ware gut verkäuflich ist und schlagen zu.

Die Schlitzer lauern überall da, wo LKW-Fahrer eine längere Pause einlegen. Mit geübten Handgriffen schneiden sie die Planen auf und checken den Inhalt. „Früher haben es die Diebe vor allem auf Zigaretten oder Unterhaltungselektronik abgesehen. Heute wird im Prinzip alles geklaut“, stellt Niels Beuck, Geschäftsführer des Bundesverbands Spedition und Logistik (DSLV) fest. Allein in Deutschland entstehe so ein Schaden von 1,3 Milliarden Euro jährlich. Die EU schätzt, dass europaweit Waren im Wert von 8,2 Milliarden Euro von den Ladeflächen verschwinden.

Mehr Diebstähle trotz Corona

In Deutschland wurden im vergangenen Jahr laut DSLV rund 25.000 Vorfälle registriert. Die Dunkelziffer dürfte wesentlich höher sein, meint Beuck. „Wenn nur die Plane aufgeschlitzt wurde, bleibt kein Fahrer stehen und ruft die Polizei. Da wiegt der Zeitverlust mehr als eine beschädigte Abdeckung.“ „Im Jahr 2020 wurde trotz Corona ein neuer Höhepunkt der Ladungsdiebstähle erreicht“, stellt Thorsten Neumann fest. Er ist Präsident des Europäischen Industrieverbandes TAPA, der Hersteller, Spediteure, Versicherer und Handelsunternehmen vertritt. Fehlende oder begehrte Güter während der Corona-Lockdowns hätten die Diebe zusätzlich auf den Plan gerufen. So seien vor allem Ladungen mit Lebensmittel, Zigaretten sowie Möbel und Haushaltsgeräte gestohlen worden. In Spanien verschwanden bei Santiago de Compostela auf einen Schlag Gesichtsmasken im Wert von fünf Millionen Euro.

Die TAPA kämpft für mehr Sicherheit im Transportwesen und will Behörden und Unternehme sensibilisieren, dass die LKW-Mafia auf dem Vormarsch ist. Im Verbandsmagazin „Vigilant“ wird der Sicherheitsexperte einer Mitgliedsspedition zitiert, der lieber nicht genannt werden will. Diese Zurückhaltung ist typisch für die Branche: offiziell will man das Treiben der LKW-Mafia nicht hochkochen und Kunden verschrecken. Doch im Fachblatt wird der ungenannte Experte deutlich: „Das wachsende Logistikaufkommen nach Corona und die schlechte Ausstattung der Lastwagen ermöglichen den perfekten Sturm, die demnächst über die europäische Logistik fegen wird.“ Die Organisierte Kriminalität denke unternehmerisch wie die geschädigten Firmen. Nur die Ziele seien anders. „Ständig werde analysiert und verbessert, um diese Ziele zu erreichen“, so der Sicherheitsexperte.

Perfekt organisierte Banden mit Onlineshop

Tatsächlich stecken hinter den „Planenschlitzern“ internationale Banden, die vor allem aus Polen heraus die Raubzüge organisieren. Die Diebe checken vor Ort den Inhalt der Ladung und melden die Ware weiter. Die Organisation prüft blitzschnell, ob es dafür einen Markt gibt. „Die haben eigene Handelsunternehmen mit Onlineshop und Marketingabteilung. Da kann man selbst mit ein paar Paletten Windeln ein gutes Geschäft machen“, erklärt Beuck. Selbst wenn ein Transporter der Diebe angehalten wird, wäre es für die Polizei nahezu unmöglich nachzuweisen, dass die Ware aus einem aufgebrochenen Lastwagen stammt.  Der Straftatbestand wäre in Deutschland ohnehin nicht sonderlich abschreckend, meint der DSLV-Geschäftsführer. Hier müsse man dringend nachbessern.
Zu den beliebten Routen der Schlitzer gehört die Achse von den Niederlanden und Belgien über Deutschland nach Polen. Da stehen den jeweiligen Ermittlern viele Landesgrenzen im Wege. In Deutschland kommt erschwerend hinzu, dass es keine fließende Kooperation zwischen den einzelnen Bundesländern gibt. Wird also in Niedersachsen ein aufgebrochener Laster gemeldet kann es lange dauern, bis auch die Polizei in Brandenburg aktiv werden kann. Bis dahin sind Täter und Ladung längst weit weg. „Hier wird übersehen, dass wir es mit Organisationen zu tun haben, die international denken und handeln“; so Beuck.

Organisation in Polen zerschlagen

Prinzipiell geht es aber auch ganz anders. Unter Federführung des Landeskriminalamtes Sachsen-Anhalt hat das Projekt „Cargo“ genau diese Schwachstellen überbrückt. Das von der EU geförderte Projekt brachte in Magdeburg Bundeskriminalamts, Ermittler aus Brandenburg, Thüringen, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Sachsen mit Kollegen aus Polen, Frankreich, Österreich und Dänemark zusammen. Auch Europol und Eurojust waren an „Cargo“ beteiligt. „Zudem war der intensive Austausch mit Unternehmen und Verbänden beeindruckend“; erklärt Beuck. So sei es beispielsweise gelungen, gestohlene Ladungen genau zuzuordnen und eine Organisation in Polen weitgehend zu zerschlagen. Da wo „Cargo“ aktiv war, gingen die gemeldeten Angriffe auf Ladungen deutlich zurück.
Die beispielhafte Zusammenarbeit wurde allerdings Ende 2020 abgebrochen als das Projekt auslief. Sehr zur Freude der „Schlitzer“, die nun wieder die Messer wetzen und unbesorgt nach Beute Ausschau halten können. Das Bundeskriminalamt scheint sich nicht um das Thema zu reißen. Angriffe auf Lastwagen werden in der eigenen Statistik zusammen mit Autoaufbrüchen zusammengefasst. Fragen nach einer Einschätzung dieser milliardenschweren Straftaten bleiben unbeantwortet. In Magdeburg ist man gleichzeitig nicht traurig, dass man das personalintensive Projekt los ist. Und aus eigener Kraft könne man so etwas wie Cargo nicht stemmen, lässt LKA-Sprecher Michael Klocke durchblicken: „Wir sind ein kleines Bundesland mit begrenzten Mitteln:“

Die Sicherheitsexperten von TAPA mahnen Transporteure und Versender, die Waren besser zu sichern. Bei „beliebten“ Waren wie Zigaretten oder Elektronik sind die Ladungen oft aufwändig mit GPS und stillen Alarmvorrichtungen gesichert. Doch das kostet Geld. Und die Gegenseite schläft nicht. So registriert die TAPA, dass die Banden mit speziellen Blockern versuchen, die GPS-Signale der LKW zu stören oder auszuschalten. Aber auch eingeschleuste Gangster, die Fahrer mit falschen Papieren ausstatten oder die Lagerhäuser auskundschaften gehören zu beliebten Strategien. Oder die Organisation bietet selbst online billigste Frachtraten an, um an die Ware zu kommen.

Mangel an Spediteuren

Solche Angebote sind derzeit besonders verlockend, denn viele Versender sind schon froh, wenn sie überhaupt jemand finden, der die Ware transportiert. Nach Angaben von TAPA fehlen allein in Großbritannien 100.000, in Frankreich 20.000 und in Deutschland 45.000 Fahrer. „Hier springen Anbieter aus Osteuropa mit Dumpingpreisen und schlecht gesicherten Lastwagen ein“, betont Beuck. So nutze es auch wenig, wenn der Versender vorschreibt, dass Ruhezeiten nur in einem speziell gesicherten Parkplatz einzuhalten sind. Da steht der Lastwagen dann außerhalb direkt am Zaun um die GPS-Überwachung zu täuschen. Die 50 Euro Parkgebühr steckt man in die eigene Tasche“, so Beuck. Geht das Manöver schief, müsste der Versender einen Transporteur in Rumänien oder Bulgarien verklagen.

Doch selbst wenn der Fahrer will, einen gesicherten Stellplatz findet er selten. Die EU-Kommission schätzt, dass in Europa rund 400.000 Parkplätze für LKW fehlen. So würden 75 Prozent der Überfälle auf Ladungen auf ungesicherten Plätzen erfolgen. Das Bundesverkehrsministerium beziffert die fehlenden Parkmöglichkeiten mit 23.000. Der Bund hat deshalb vor wenigen Wochen einen Fördertopf von 90 Millionen Euro aufgelegt, mit dem private Investoren zusätzliche Stellplätze in der Nähe von Autobahnen schaffen sollen. Dabei schielt man in Berlin offenbar auf die Logistikunternehmen, die ohnehin in der Nähe der wichtigen Verkehrsadern ihre Lager betreiben. Beim DSLV sieht man diesen Vorstoß skeptisch. Kein Mitgliedunternehmen habe hier bisher Interesse gezeigt, denn durch die fremden Fahrzeuge kämen auch zusätzliche Risiken aufs Gelände.

Manche Versender sparen sich aber auch schlicht den teuren Aufwand, die Waren und Fahrer besser zu sichern. Transport ist ein Kostenfaktor, der so klein wie möglich sein soll. Gemessen an den riesigen Mengen und der Vielzahl der Fahrten ist das Risiko eines Überfalls überschaubar. Trotzdem verschwinden jeden Tag Warenwerte in Millionenhöhe. In bis zu zehn Prozent der Fälle ist mit der Ladung der Laster ebenfalls weg.  LKA-Sprecher Klocke bringt die Folgen knapp auf den Punkt: „Die Hersteller kalkulieren solche Kosten ein und am Ende stehen die Verbraucher für die Kosten ein:“                                   

Andreas Kempf

05.08.2021 | 12:04

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