Die Titanen: Wie sich die Mähdrescher aus Harsewinkel durch den Matsch wühlen
„Titanen“, „Transformatoren“ und „Pioniere“ heißen die Kategorien, in denen der Mittelstandspreis der Medien verliehen wird, an dem auch Focus online beteiligt ist. Ausgezeichnet wurden an diesem Wochenende Unternehmen, die sich in der Krise als besonders widerstandsfähig erwiesen haben. Wir stellen in einer dreiteiligen Serie die Gewinner vor. Hier kommt der „Titan“.
Von Oliver Stock
In Harsewinkel, tief in Ostwestfalen, werden sie auch diesen Krieg überstehen. Und hinterher wird es besser sein als vorher. Nach dem Ersten Weltkrieg erweiterten die Gebrüder Claas 1919 das Firmengelände und machten aus einer Klitsche eine Fabrik für Strohbinder. Während des Zweiten Weltkriegs, als die Produktion auf Rüstungsgüter umgestellt wurde, entwickelte man hier in aller Stille den ersten fast selbstfahrenden Mähdrescher und brachte ihn Anfang der 50er-Jahre auf den Markt. Und jetzt, wo zwei der weltweit wichtigsten Getreidelieferanten miteinander Krieg führen, tüfteln sie an der Zeit danach.
Dafür ist zuallererst die Familie verantwortlich: Cathrina Claas-Mühlhäuser als Aufsichtsratsvorsitzende sowie Helmut, Reinhold und Patrick Claas als Mitglieder des Gremiums. Sie sorgen für Kontinuität, an der Krisen abprallen. Seit mehr als einem Jahrhundert. Claas ist deswegen der ausgezeichnete „Titan“, der den diesjährigen „Mittelstandspreis der Medien“ erhält. Die „Titanen“, sind vorn der Jury als Unternehmen definiert, „die es schon immer gab und die es ewig geben wird.“ Minderstens 100 jahre muss das Unternehmen schon bestehen. Claas, geründet 1913, steht heute für stufenlose Getriebe in Traktoren, Raupenlaufwerke für Mähdrescher, die den Bodendruck minimieren, den Mähbalken „Max Cut“ mit Seitenaufhängung und bis zu 3,4 Meter Schnittbreite. Und fürs Smart Farming, für digitale Systeme.
Die Kette von Saatgut über Düngemittel bis hin zur Ernte muss reibungslos funktionieren, um genug Brot für die Welt backen zu können. Claas besetzt in dieser Kette das letzte Drittel. Je effektiver die Maschinen aus Harsewinkel sind, desto mehr kann angebaut werden. Fallen sie aus, ist die Ernte bedroht. Missernten in Russland und der Ukraine, die zusammen für ein Drittel der Weltgetreideversorgung stehen, haben katastrophale Folgen für den Rest der Menschheit. Es lässt sich also sagen: Ohne Claas hungern mehr Menschen in der Welt.
Und falls deswegen in Harsewinkel jemand darüber nachdenkt, wie es weitergehen soll in Russland, wo Claas auch produziert hat, dann gilt er oder sie nicht als politisch fehlgeleitet oder illoyal, sondern möglicherweise als Retter von Menschenleben. „Wir stehen gerade vor einer sehr herausfordernden Zusammenballung von Krisen“, sagt Claas-CEO Thomas Böck. Allerdings nur, um gleich darauf alles wieder ins rechte Verhältnis zu rücken: die Probleme, die Zuversicht und die Gelassenheit, die einem eine Geschichte gibt, die länger andauert, als etwa die der Sowjetunion jemals währte.
„Die Landwirtschaft ist ein zyklisches Geschäft. In unserer Geschichte hatten wir es deshalb immer wieder mit größeren Nachfrageeinbrüchen zu tun, zuletzt in der globalen Finanzkrise“, sagt Böck. „Aktuell haben wir das umgekehrte Problem: Wir müssen mit dem Paradoxon leben, dass wir die weltweit sehr starke Nachfrage nach unseren Produkten wegen der brüchigen Lieferketten nur zum Teil bedienen können.“ All das kann Claas nicht erschüttern. „Wir gehen langfristige Bindungen ein und schauen nicht nur auf den kurzfristigen Effekt. Dieser Ansatz sorgt auch in unübersichtlichen Zeiten für Orientierung und Stabilität“, versichert Böck. Schließlich besitzen sie in Harsewinkel eine Kernkompetenz darin, sich aus dem Matsch zu wühlen.
30.10.2022 | 15:24