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Ein Wunder? Deutschlands Industrie spart mehr Gas als gedacht

Der Gasverbrauch der Konzerne ist drastisch gesunken. Das liegt daran, dass die Produktion runtergefahren wird. Es liegt aber auch daran, dass es pfiffige Methoden gibt, mit weniger Energie klar zu kommen. In den Konzernen kommen jetzt die Tüftler zum Einsatz.

Von Oliver Stock / WirtschaftsKurier

Wunder gibt es wahrscheinlich nicht, aber manches hört sich immerhin so an: Da wird seit Jahren um den Klimawandel gerungen, es geht ums effiziente Produzieren und ums Sparen -  das Ganze kommt aber nur mühsam voran. Und dann passiert das: Unter dem Eindruck ausbleibender Gaslieferungen aus Russland und den Vorboten eines kühlen Winters spart die Industrie mit einmal Gas. Und zwar nicht ein paar Prozent, sondern gleich bis zu einem Fünftel ihres bisherigen Gaskonsums. Im September lag der industrielle Verbrauch um rund 14 Prozent unter dem Mittelwert der vergangenen Jahre, im Juli und August waren es sogar mehr als 20 Prozent weniger. Damit ist die Industrie der Bereich, in dem am schnellsten und am meisten Gas eingespart wurde. Doch ein Wunder?

Die Antwort lautet: nein. Es ist menschengemacht, und es ist auch nicht durchweg ein Grund zur Freude. Die Industrie erreicht das Ziel, das die Bundesregierung als Empfehlung vorgegeben hat, nämlich auf zwei Wegen. Der eine ist dabei das Gegenteil von dem, was gebraucht wird: Weil die Energiepreise so hoch sind, kommen viele Unternehmen nicht umhin, ihre Produktion runterzufahren. Sie legen Maschinen still, was am Ende zu roten Zahlen in der Bilanz führt. So warnt zum Beispiel die Industrievereinigung Kunststoffverpackungen vor „massenhaften Produktionsstillegungen“. Der Chemieverband rechnet vor, dass seine Mitgliedsunternehmen die Produktion in diesem Jahr bereits um zehn Prozent gedrosselt haben. Die Glashersteller bringen es griffig so auf den Punkt: Ohne Gas kein Glas.

Mit dem Rücken zur Wand stehen die Aluminiumhersteller. Hier zählt man bereits die Opfer der Energiekrise. Die Aluminiumproduzenten haben extrem hohe Energiekosten und können ihre Werke nicht einfach herunterfahren. Ein plötzlich Auskühlen würde ein Wiederhochfahren unmöglich machen. Einer der größten Hersteller, Speira hat laut aktueller Mitteilung beschlossen, 50 Prozent seiner Produktion im „Rheinwerk“ bei Düsseldorf bis auf Weiteres einzuschränken. Diese Entscheidung habe man aufgrund der steigenden Energiepreise in Deutschland getroffen. Mit dem Abschalten wurde Anfang Oktober begonnen und voraussichtlich im November soll die Hälfte der Produktion dann stillstehen. „Die Energiepreise haben in den letzten Monaten ein zu hohes Niveau erreicht“ sagt Speira-Chef Einar Glomnes, „und wir gehen nicht davon aus, dass diese in naher Zukunft sinken werden. Diese Entwicklung erfordert, dass wir die Hälfte unserer Produktion bis auf Weiteres drosseln, um Speiras Wertschöpfung zu erhalten.“

Der zweite Weg ist deutlich konstruktiver. Nach dem Motto der mitunter gefürchteten Berater von McKinsey: „Zehn Prozent gehen immer“ sparen Industriebetriebe, in dem sie Maschinen nicht mehr unter Volllast fahren, Wärme, die in der Produktion entsteht, selber nutzen und da, wo es schnell machbar ist, Hitze nicht durchs Verfeuern von Gas, sondern durch Öl und Kohle erzeugen. Unternehmen wie der niedersächsische Mittelständler Lenze haben sich darauf spezialisiert, energiesparende Prozesse in der Industrie einzuführen. Lenze-Chef Christian Wendler berichtet, wie so etwas gehen kann: „Der deutsche Ingenieur denkt stets mit Puffer.“ Dadurch entstehe in einem Prozess eine Kette von Reserven, die Arbeitsprozesse am Ende ineffizient machen können. Mit genauen Daten, was gebraucht wird, ließe sich das verhindern. Und darüber hinaus: Bewegungsabläufe ließen sich verbessern. „Ich vergleiche“, sagt Wendler, „das immer mit einem Auto: Wenn es von roter Ampel zu roter Ampel spurtet, verbraucht es sehr viel Energie. Wenn es langsam fährt und dadurch die grüne Welle erwischt, ist es genauso schnell am Ziel, aber verbraucht deutlich weniger.“

Einer, der ebenfalls intensiv nach einer Antwort auf die hohen Energiepreise suchen muss, ist Martin Brudermüller. Er ist Chef des größten deutschen Gasverbrauchers: des Chemieriesen BASF. Der Konzern benötigt allein am Standort Ludwigshafen etwa vier Prozent der Gasmenge in Deutschland. Das entspricht dem, was die gesamte Schweiz verfeuert.

Brudermüller warnt und handelt. Wird das Gas bei BASF knapp, setzt das Unternehmen seinen „Sonderalarmplan Erdgas“ in Kraft. Der schreibt detailliert vor, wie das gewaltige Werk in Ludwigshafen auf Erdgaskürzungen oder Druckschwankungen reagiert. Kurz zusammengefasst steht da: Bleibt die Versorgung bei mehr als der Hälfte des maximalen Erdgasbedarfs, könnten die Anlagen mit verringerter Last weiterbetrieben werden. Umgekehrt bedeutet das, dass bei weniger als 50 Prozent Lieferung der Betrieb eingestellt wird.

Die Folgen malt Brudermüller so aus: „Sollten wir kein Gas mehr zugeteilt bekommen, blieben uns für das Herunterfahren des Standorts Ludwigshafen ein paar Stunden. Dann stünde der riesige Standort zum ersten Mal in seiner Geschichte still. Wenn der Druck in den Leitungen unter 38 bar fällt, schalten sich die Anlagen automatisch ab. Es ist nicht trivial, eine Anlage, die bei hohen Temperaturen gefahren wird, binnen Stunden kontrolliert abzukühlen.“ Nachdem Brudermüller das gesagt hatte, brach der Kurs der Aktie ein.

Aber Brudermüller handelt eben auch: Die Hälfte des Erdgases, das BASF in Ludwigshafen verbraucht, wird als Rohstoff verwendet und fließt beispielsweise in die Düngemittelproduktion. Da lässt sich kaum etwas ändern: ohne Gas kein Dünger. Bei der anderen Hälfte aber ist etwas zu machen. Die Hoffnung ruht auf Wärmepumpen, allerdings nicht jene in der Größe eines Umzugskartons, wie sie mitunter in Nachbars Garten zu finden sind, sondern Container im Lkw-Format. Während der Umzugskarton maximal 95 Grad Celsius erzeugt, schafft die Hochtemperatur-Wärmepumpe im Lkw-Format in Pilotversuchen bereits 300 Grad. Und da wird es interessant für BASF und andere.

Brudermüller treibt deswegen gemeinsam mit der VW-Tochter MAN Energy Solutions als Hersteller den Bau der weltgrößten Wärmepumpe voran. Sie soll 150 Tonnen Dampf pro Stunde erzeugen und den Gasverbrauch drastisch sinken lassen. Eine Machbarkeitsstudie soll noch dieses Jahr abgeschlossen werden. MAN-Chef Uwe Lauber spricht von einem „gewaltigen Hebel“, den beide Unternehmen da umlegen wollten.

Das Problem: Jene Umstellungen in der Industrie, die wirklich etwas bringen, benötigen Zeit. Die Gasspeicher in Deutschland sind zwar wohlgefüllt, aber endlich. Falls der große Einspareffekt nicht bald kommt, bleibt doch nur wieder der andere Weg und der heißt: Produktion verschwindet. Echte Wunder sehen anders aus.

21.10.2022 | 09:51

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