Energiejagd im Mittelmeer
Unter dem Grund des Mittelmeers liegen Abermilliarden Tonnen Gas und Öl – und die Anliegerstaaten suchen und fördern im Wettlauf: jeder gegen jeden. Dabei hatten internationale Institutionen dort bereits neue Harmonie ausgerufen. Das war allerdings vor dem Ukrainekrieg.
Auf See herrscht demnächst womöglich das Gesetz des Dschungels – so eine eher pessimistische Sicht auf die Aktivitäten zahlreicher Anrainerstaaten im östlichen Teil jenes großen Wassers, das die Römer „mare nostrum“ nannten, unser Meer, rund um welches sie ihr Reich bauten. Besitzfragen gab es nicht, die Legionen Roms wären die Antwort gewesen. Dem Energiehunger, und dem Streit um Seegrenzen der Nachwelt ist es derzeit zuzuschreiben, dass es einen nur höchst zerbrechlichen Frieden gibt im weiten Gebiet zwischen Türkei und Griechenland, Israel und Libanon, Zypern und Ägypten. Anerkanntes Seerecht und internationale Abkommen werden großräumig umschifft.
Der russische Überfall auf die Ukraine hat die schönsten Visionen und zukunftsträchtigsten Pläne von EU und Mittelmeerstaaten Nordafrikas fast über Nacht geschreddert. Noch Ende 2021 konnte man in durchaus seriösen Quellen vom Bedeutungsverlust des Erdgases unter dem Meeresboden lesen, und vom daraus folgenden friedlichen Zusammenleben der Nachbarn, die zum Teil seit Jahrhunderten zerstritten sind. Der Schlüsselbegriff dafür lautete: „Erneuerbare Energien“. Gewaltige Unterseekabel sollten Strom aus Sonne und Wind von Ägypten zum Beispiel via Zypern und Kreta nach Mitteleuropa transportieren. Grüner Wasserstoff den Energiehunger der Region stillen und Europa beleuchten. Die leidigen Auseinandersetzungen um Grenzen und Seemeilen vor den Küsten bedeutungslos werden lassen.
Wie man sich täuschen kann
Der Traum ist aus, und das wohl auf unabsehbare Zeit. Bereits vor 2014 hatte die EU eine Strategie für die Nutzung der Gasvorkommen des östlichen Mittelmeerraums als Energiequelle für Mitteleuropa entwickelt – mit dem weitsichtigen Ziel, die Abhängigkeit vom Rohstoff Russlands zu verringern. Der Plan verschwand in den Schubladen, als man sich das hehre Ziel der Dekarbonisierung der europäischen Energieversorgung setzte. „Erdgasimporten aus dem östlichen Mittelmeerraum wird keine besondere Relevanz mehr beigemessen“, konstatierte noch im Herbst 2021 die Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Selten wurden Pläne so schnell zu Makulatur. Ohnehin liegen die möglichen Erträge jener nachhaltigen Energieversorgung weit in der Zukunft. Dennoch hat man sie vordringlich verfolgt – und stoppte derweil den Fokus auf Gasexploration, weil sie erst nach Jahren zu einer verlässlichen Versorgung führen würde. Und dann, so der Glaube, brauche man die fossilen Energieträger nicht mehr. Israelische Experten, deren Land unbeirrt Erdgas fördert, halten hingegen den Rohstoff noch bis weit ins nächste Jahrhundert für unentbehrlich. Es könnte sein, dass sie Recht behalten.
Visionen von der stolzen türkischen Seemacht
Visionen ganz anderer Art verfolgt offensichtlich die Türkei. Ankara fährt einen Pendelkurs im Ukraine-Konflikt; kein Wunder, kommt doch sein Gas fast zur Hälfte aus Russland, ein weiterer bedeutender Lieferant ist der Iran. Beides Länder, die man in Ankara nicht verärgern möchte. Stattdessen böte die Türkei eine Möglichkeit, Gas weiterzuleiten via Pipeline durch Bulgarien oder gar Griechenland – die Leitungen gibt es. Die EU ist skeptisch, denn damit würde eine weitere indirekte Abhängigkeit von Russland erzeugt. Außerdem ist die Türkei, Nato-Partner wie auch ihr Erzgegner Griechenland, im östlichen Mittelmeer vor allem Störenfried – jedenfalls aus Sicht der meisten übrigen Anrainerstaaten. Das türkische Bohrschiff „Abdulhamid Han“ sucht seit kurzem nach eigenen Angaben „überall“ im östlichen Mittelmeer nach neuen Vorkommen – ein Affront gegen Griechenland, dessen eigene Wirtschaftszonen rund um die Inseln der Ägäis von Ankara nicht ernstgenommen werden, obwohl es sich um international anerkannte Seegrenzen handelt. Die Türkei ist ebenfalls in den Gewässern des türkisch besetzten Nordzypern aktiv, ein Staat, der international nicht anerkannt ist. Das bringt das EU-Mitglied Republik Zypern auf die Palme und beunruhigt Griechenland nochmals. Mit osmanischen Traditionen hat man in Athen so seine Erfahrungen.
Ohne die Türkei ist allerdings auf Dauer weder friedliche Ressourcengewinnung im südosteuropäischen Raum noch eine Nutzung künftiger „grüner“ Energien zu haben. Auch in Sachen Natobeitritt Finnlands und Schwedens halten die Türken einen Trumpf in den Händen; ohne ihre Zustimmung geht nichts. Die Bedingungen, die man dafür erfüllt haben möchte, müssen Ankaras Wünschen wohl so weit entgegenkommen, dass man dort die unbedingten Vorbehalte Russlands und mögliche unangenehme Konsequenzen aus Moskau zu tragen bereit wäre. Die Wahlen im kommenden Jahr werfen ebenfalls ihre Schatten voraus: Angesichts einer katastrophalen Wirtschaftsentwicklung mit dramatisch hoher Inflation setzt der autokratische Präsident Erdogan noch mehr als ohnehin schon auf unbändigen Nationalstolz als Vehikel zur Wählergewinnung. Beruhend übrigens auf einem eigenwilligen Geschichtsverständnis, das demjenigen Russlands unter Putin nicht unähnlich ist.
Kleine Lichtblicke im Meer der Konflikte
Inmitten dieser unerfreulichen Gemengelage haben Israel und die Türkei jüngst die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen besiegelt. Das könnte auch die Konflikte im Energiebereich zumindest dämpfen helfen. Israel fördert bereits Gas aus zwei riesigen Vorkommen vor seiner Küste – nur die Transportfrage nach Europa war bislang nicht vordringlich und ist daher ungelöst. Im Einvernehmen mit der Türkei ließe sich mittelfristig hier ein Weg finden. Gemein ist allen Projekten, dass sie zur kurzfristigen Milderung einer dramatisch engen Versorgungslage nicht geeignet scheinen. Allerdings zeigt sich an den voreilig aufgegebenen Gas-aus-dem-Meer-Plänen der EU, dass eine entschlossene Umsetzung in all den Jahren seit 2010 heute ihre Früchte tragen würde. Heute, wo man einen Ausweg aus der misslichen Situation dringend bräuchte, und nicht hat.
Reinhard Schlieker
23.08.2022 | 16:08