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Generation „Neets“: Warum so viele junge Menschen einfach nichts tun

Seit Corona wächst die Zahl junger Menschen wieder, die komplett inaktiv sind und dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen, obwohl sie dort dringend gebraucht werden. Hat sie Corona so sehr demotiviert? Haben sie zu viel Geld? Oder sind es Migranten mit schlechten Chancen am Arbeitsmarkt?

Von Oliver Stock

Diese Zahl hat es in sich: Rund 630.000 Jugendliche oder junge Erwachsene arbeiten nicht und sind auch nicht in Schule, Ausbildung oder Studium aktiv. Das ist soviel, wie der Bevölkerung einer Stadt wie Hannover. Sie alle tun offiziell: nichts. Gleichzeitig suchen zahlreiche Unternehmen händeringend Auszubildende und junge Fachkräfte. Das Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) hat errechnet, dass es 2022 für mehr als 630.000 offene Stellen rechnerisch keine passend qualifizierten Arbeitslosen gab. Ein Rekordwert, der exemplarisch dafürsteht, dass der sogenannte Fachkräftemangel auch einer an nicht allzu spezialisiertem Personal ist.

Wie kann das sein? „Tatsächlich gibt es eine wachsende Gruppe von Jugendlichen, die mangels Orientierung in kompletter Inaktivität verharrt“, sagt es Christina Ramb, Vorsitzende des Verwaltungsrats der Bundesagentur für Arbeit (BA) und Mitglied der Hauptgeschäftsführung bei der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) in der Arbeitgeberzeitschrift „Aktiv“. „Offensichtlich gibt es einen immer größeren Anteil von jungen Menschen, die schon den Weg der Berufswahl nicht konsequent gehen – und so für längere Zeiträume nicht ins Arbeitsleben finden.“ Inzwischen hat dieses Heer der Nichtstuenden unter Fachleuten sogar einen eigenen Namen: „Neets“ heißen jene 15 bis 24jährigen, was die Abkürzung für  „Not in Education, Employment or Training“ ist. In Deutschland lag die Neet-Quote 2022 bei rund 6,8 Prozent. Das ist laut Statistik-Amt Eurostat Platz acht unter den 27 EU-Staaten. Am besten stehen die Niederlande da, dort gibt es nur 2,8 Prozent Neets. Es folgen Island mit 4 Prozent und Schweden mit 4,9 Prozent.

Über die Gründe rätseln die Soziologen. Einer könnte sein: „Corona hat sehr vielen jungen Leuten über einen langen Zeitraum die Chance genommen, sich beruflich zu orientieren“, sagt Bildungsforscher Clemens Wieland von der Bertelsmann-Stiftung. Dieser Effekt sei nach wie vor stark zu spüren. Ein weiterer Grund könnte schlicht die abnehmende Notwendigkeit bei jungen Leuten sein, selbst Geld zu verdienen. Die derzeit 20 bis 40jährigen werden auch die „Generation Erbe“ in Deutschland genannt: Niemals gab es mehr Vermögen, das vererbt wird. Die Aussicht darauf könnte den Willen, eine eigene Erwerbstätigkeit aufzunehmen, deutlich lähmen.

Dazu kommt ein zweiter Negativrekord: Zum ersten Mal gibt es hierzulande mehr als 2,5 Millionen Menschen, die über keinen Berufsabschluss verfügen. Das geht aus dem Entwurf des neuen Berufsbildungsberichts hervor. Konkret geht es hier um die Altersgruppe der 20- bis 34-Jährigen. Waren 2020 noch 15,5 Prozent von ihnen in Deutschland ohne Schulabschluss, waren es im vergangenen Jahr 17 Prozent. Was womöglich nach einem kleinen Anstieg klingt, ist tatsächlich ein erheblicher Sprung und ein ernstzunehmendes Problem. Laut Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) in dem Berichtsentwurf liegt der Anteil bei jungen Frauen mit 15 Prozent niedriger als bei jungen Männern, von denen mehr als 18 Prozent keinerlei Ausbildung beendet haben.

Das Problem beginnt schon früher, wie eine weitere Zahl belegt: Rund 50.000 Jugendliche verlassen bundesweit jedes Jahr ohne Abschluss die Schule, also rund 6 Prozent der Schüler eines Jahrgangs. Die Quote ist unter Ausländern doppelt so hoch wie unter Deutschen. Übrigens brechen auch Gymnasiasten die Schule ab, oft gerade solche, deren Talente nie erkannt wurden. Das Problem ist nicht neu, die Prozentrate steigt seit zehn Jahren. Aber es wird schlimmer und angesichts des allgemeinen Personalmangels inzwischen nicht mehr weitgehend ignoriert. Arbeit¬ge¬ber und Gewerk¬schaf¬ten warnten in seltener Einmütigkeit: „Es darf uns alle nicht ruhen lassen, dass noch immer zu viele junge Menschen die Schule ohne Abschluss verlas¬sen.“ Man erwar¬te „ein deutli¬ches Kommittent aller Ebenen“.

Mit jedem Ungelernten vergrößert sich der Mangel an Personal am Arbeitsmarkt. Und die Folgen sind auch für den gesamten Sozialstaat erheblich. Betrug 2022 die allgemeine Arbeitslosenquote 5,3 Prozent, lag sie beiden Ungelernten bei knapp 20 Prozent. Von den derzeit 881.000 Langzeitarbeitslosen haben 60 Prozent keine abgeschlossene Ausbildung. Fachleute warnen: Die Gesell¬schaft kann es sich nicht mehr leisten, dass so viele Menschen ohne Ausbil¬dung in den Arbeits¬markt kommen.

Bund und Länder haben das Problem erkannt und arbeiten auf mehreren Wegen dagegen an: Der Bund unterstützt mit dem sogenannten "Startchancenprogramm" an 4000 Schulen in sozialen Brennpunkten unter anderem durch eine Stärkung der Schulsozialarbeit. Wie es gehen kann, zeigt das Beispiel Hamburg. Die Hansestadt hat erfolgreich sogenannte Jugendberufsagenturen etabliert, so sich Mitarbeiter aus diversen Ämtern unter einem Dach um Jugendliche kümmern. Seitdem haben sich die Übergangsquoten von der Schule in den Beruf mehr als verdoppelt. Es könnte noch viel besser sein, wenn es da nicht ein Problem gäbe: Die Berufsberater kommen derzeit nicht an die Daten von schlechteren Schülern, um sich gezielt um sie kümmern zu können, wie Andrea Nahles beklagt, die Chefin der Bundesagentur für Arbeit: „Wir verlieren wegen ungeklärter Datenschutzfragen jährlich bis zu 130.000 junge Leute, bei denen dann später Streetworker mühsam versuchen, wieder mit ihnen in Kontakt zu treten.“


28.07.2023 | 15:32

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