(Foto: Stefan Jaitner / Picture Alliance_DPA)



Karrierealle Jobs


Gorillas, Flaschenpost, Flink und Co.: Vor unserer Haustür tobt die Schlacht der Lieferdienste

Es vergeht fast kein Monat, an dem nicht ein neuer Lieferdienst ankündigt, erst den deutschen Markt und dann die Welt zu erobern. Bisher sind die Eroberer allerdings vor allem Verlierer: Sie verbrennen das Geld der Investoren wie in einem Hochofen. Und ihrer Fahrerinnen und Fahrer leisten Knochenarbeit für einen Hungerlohn.

Von Oliver Stock / WirtschaftsKurier

Wachstum ohne Ende, Verluste ohne Ende, Arbeitszeiten ohne Ende. Aber Jobs mit einem schnellen Ende: So sieht es derzeit auf dem Boom-Markt der neuen Essens-Lieferdienste aus. Vor den Haustüren der Kunden herrscht die perverse Schlacht der Lieferanten. Der auf Plakaten allgegenwärtige 10-Minuten-Lieferdienst Gorillas verbrennt – pro Tag – geschätzte eine Millionen Euro. Das Management muss ich sich mit einer Flut von Klagen der Fahrerinnen und Fahrer auseinandersetzen.

Der in diesem Jahr von Dr. Oetker aufgekaufte Lieferdienst Flaschenpost hat seinen bisher ersten und einzige Konzernabschluss veröffentlicht. Für das Jahr 2019 wies er einen Verlust aus, der beinahe so hoch war wie der Umsatz: 70 Millionen bei 94 Millionen Euro Umsatz. Seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind es nicht, die den Verlust nach oben treiben. Denn die speist er mit knapp mehr als dem Mindestlohn ab und beschäftigt sie oft mit befristeten Kettenverträgen. Das ist an sich verboten, Startups können aber eine Ausnahme in Anspruch nehmen.

Gleichzeitig überschwemmen neuen Anbieter den Marktplatz vor der Haustür: Rewe hat sich entschlossen, beim Lieferdienst Flink einzusteigen, um dem Konkurrenten Edeka, der mit den Minitransportern des niederländischen Startups Picnic unterwegs ist, nicht allein die Straße zu überlassen. Der neue türkische Anbieter Getir will noch in diesem Jahr seine Liefertruppe auf 1000 Mitarbeiter aufstocken. Und ein britisch-amerikanische Lieferdienst mit dem auf deutsch kruden Namen „Gopuff“ will ab sofort in großem Stil vor allem Drogerieartikel persönlich an die Frau oder den Mann im Homeoffice überreichen. Sie alle haben das gleiche Geschäftsmodell: Sie kaufen billig ein, was nur bei großen Mengen funktioniert. Sie dürfen keine teure Belegschaft mit sich herumschleppen, das mögen die Investoren nicht. Dafür zwingt sie auf absehbare Zeit niemand, ein Geschäftsmodell zu präsentieren, das nachhaltig ist, weil es auch nur irgendeinen Wert schafft. Und sie alle strahlen, weil es im Coronajahr, als sich keiner vor die Tür traute, so gut gelaufen ist mit der Lieferei.
Laut dem US-Datenanbieter Pitchbook haben Investoren im ersten Halbjahr 2021 weltweit rund drei Milliarden Dollar in mehr als 40 Lieferdienste gepumpt. 1,3 Milliarden davon gingen an Gorillas, Flink und Getir. Die Tendenz dürfte im laufenden zweiten Halbjahr noch steigen, da allein Gorillas in Berlin nach eigenen Angaben in diesem Monat bei einer Finanzierungsrunde ein Milliarde Dollar eingesammelt hat. Es sei die größte Finanzierungsrunde eines nicht börsennotierten Unternehmens in der europäischen Lieferdienst-Branche, stellt Gorillas selbstbewusst fest. Ob sich diese Investitionen für die Geldgeber rechnen werden, ist jedoch pure Spekulation.

Wie immer, wenn sich ein Markt neu bildet, trennt sich nach etwa drei Jahren die Spreu vom Weizen. Erst treffen die jungen Unternehmen in der Boomphase auf Investoren, die aufgrund des zinslosen Geldes fast verzweifelt auf der Suche nach Anlagemöglichkeiten sind. Jede mögliche Rendite ist besser als keine oder gar Strafzinsen, wenn das Geld auf der Bank liegt, lautet ihr gesammelter Erfahrungsschatz der letzten zehn Jahre. Nach der Boomphase kommt die Konsolidierungsphase, in dem der Stärkere den Kleineren kauft oder verdrängt. Es gibt viele Verlierer und wenig Gewinner, die dann allerdings auch Geld verdienen und sich an die Regeln halten müssen. Bis dahin jedoch ist es noch ein langer Weg. Derzeit sortieren sich die Lieferdienste, um mit möglichst gut ausgebildeten Muskeln von der Boom- in die Konsolidierungsphase überzugehen.

Marktbeobachter, die sich drastisch ausdrücken, rechnen dabei jedoch mit einem „Blutbad“. Sie bezweifeln, dass die Unternehmen jemals schwarze Zahlen schreiben können. „Wenn ein Fahrradkurier für eine Liefergebühr von 1,80 Euro zehn Minuten zum Kunden hin- und wieder zurückfährt und Unternehmen dafür eine gigantische Werbeschlacht veranstalten, kann man damit kein Geld verdienen“, sagt Otto Strecker, Experte für Lebensmittelmarketing und Vorstand der AFC Consulting Group AG in Bonn dem Portal ntv. Investoren nehmen das Risiko, am Ende leer auszugehen, laut Strecker in Kauf, weil sie ein grundsätzliches Problem haben: „Es gibt einfach zu viel Geld.“ Die Hoffnung all derer, die in Geld schwimmen und nicht wissen wohin damit, ist wie die, auf den Sechser im Lotto: Sie glauben, ausgerechnet sie haben das Startup gefunden, das am Ende als Monopolist auf dem Markt die Preise diktiert. Man könnte auch sagen: Gorillas auf Futtersuche profitieren vom Raubtierkapitalismus der Startupsammler.

Strecker drückt sich anders aus: „In der Hoffnung, letztlich das große Geld zu verdienen, werden auf dem Weg dahin wahnsinnig hohe Verluste in Kauf genommen.“ Die einzige Währung, in der bis dahin gehandelt werde, seien Marktanteile. Auf dem Weg dahin passiert abenteuerliches: Der Dax-Konzern Delivery Hero, der in seiner zehnjährigen Geschichte noch keinen Cent verdient hat, beteiligt sich an Gorillas, wo Investorengeld vernichtet wird wie anderswo Altpapier im Reißwolf.

Doch die Wette ist heiß. Denn auch die flinksten Liefer-Startups sitzen in kürzester Zeit auf hohen Kosten für Wareneinkauf, Logistik, Mitarbeiter und Marketing. Manchmal geht die Wette sogar schief: Gorillas hatte vor der jüngsten Finanzierungsrunde Schwierigkeiten mit möglichen Neuinvestoren. Der US-Lieferdienst Doordash, der sich anfangs interessiert gezeigt hatte, sprang wieder ab und investierte lieber in den Rewe-Partner Flink. Ein Schuss Old-Economy war den Doordash-Investoren offenbar lieber. Dabei geht es vor allem um Einkaufskonditionen: Wenn Rewe seine Einkaufspreise an Flink weitergibt, haben andere Wettbewerber das Nachsehen. Genauso ist es bei Flaschenpost und Dr. Oetker: Die Getränkesparte des Pudding-Konzerns kann mit ihren Konditionen die Kosten für den Wareneinsatz bei Flaschenpost deutlich senken.

Das Nachsehen haben nicht nur Investoren, die ihr Geld wie in der Spielbank anlegen. Wenn sie verlieren, erzeugt das mitunter eher Schadenfreude. Das wahre Nachsehen haben vielmehr die, die als Boten der Lieferdienste unterwegs sind, und von dem Geld, das sie verdienen, leben müssen.
Sie müssen hart im Nehmen sein. Die Geschäftsidee von Flaschenpost ist: Getränkekisten, die rund 17 Kilo das Stück wiegen, bis an die Wohnungstür zu bringen. Auch, wenn es die fünfte Etage ist. Und das alles zu Supermarktpreisen, in diesem Fall ohne Liefergebühr. Die Fahrer heißen deswegen „Helden“, kaufen können sie sich davon allerdings nicht viel. Denn laut Betriebsrat kommen neue Fahrerinnen und Fahrer in Berlin bei Flaschenpost auf einen Basis-Stundenlohn von 10,60 Euro. Dreimal am Tag kommen E-Mails mit freien Schichten, auf die sich die Mitarbeiter dann bewerben müssen. Wer studiert und einen Nebenjob sucht, kann damit gut bedient sein. Doch für Menschen, die den heldenhaften Einsatz bei Flaschenpost als Beruf sehen, sind Arbeitszeit und Bezahlung ein prekäres Modell.

Zur regelrechten Hassfigur ist darüber Gorillas-Chef Kagan Sümer geworden. Gegen ihn persönlich richteten sich in diesem Monat bereits mehrere Streiks der Gorillas-Ryder, wie sich die Fahrer mit Hang zum Science-Fiction-Abenteuer nennen: „In meinem Warehouse gab es in den letzten drei Wochen mehr als zehn. Unfälle mit Knochenbrüchen“, rief dabei ein Streikender und ergänzte: „Wir haben das Unternehmen gebeten, uns neue Fahrräder zu stellen, aber nichts ist passiert. Deshalb beende ich das Arbeitsverhältnis von Kagan.“ Ein anderer fügte bei der Demonstration hinzu: „Ich streike, weil wir bessere Ausrüstung brauchen, um die Ware auszuliefern. Kagan, Du bist gefeuert!“ Kagans Antworten wie: „Wir arbeiten hart daran, die Probleme zu lösen“, und: „Im Herzen bin ich selber Fahrer“, konnten die Streikenden nicht mehr beruhigen, nachdem etlichen von ihnen gekündigt worden war.
Auf ähnliche Proteste hatte der Goríllas CEO noch im Sommer reagiert und eine persönliche Fahrradtour zu allen deutschen Gorillas-Warenlagern angekündigt. Die Idee versank jedoch so schnell wieder, wie sie Kagan offenbar in den Kopf geschossen war. Dem obersten Gorilla  geht es wie seinen Mitbewerbern ums Wachstum, da bleibt wenig Zeit für eine Canossa-Tour. Außerdem sieht Kagan die Sache grundsätzlich positiv: „Heute verfügt Gorillas über das beste Team in unserer Branche, arbeitet mit führenden Partnern zusammen und hat die finanziellen Ressourcen, um unsere marktführende Position in Europa und darüber hinaus zu festigen“, ließ er sich angesichts der jüngsten, am Ende doch gelungenen Finanzierungsrunde vor einigen Tagen zitieren. Und da zu seinen Investoren auch Delivery Hero zählt, fällt dessen Chef Niklas Östberg nur das Beste zu Gorillas ein: Das Unternehmen setze neue Maßstäbe in der Lieferindustrie, „indem es eine effiziente und nachhaltige Alternative zu traditionellen Lebensmittelhändlern bietet.“

Was Ösberg damit gemeint haben könnte, wissen sie wahrscheinlich nur in der Branche selbst. Von außen betrachtet lässt es sich das nachhaltige Geschäftsmodell in der Lebensmittellieferzunft bislang jedenfalls nicht nachvollziehen.

27.10.2021 | 10:09

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