Ist das gerecht? Wie andere Staaten mit ihren Arbeitslosen umgehen
Union und die Ampel-Koalition haben sich beim Bürgergeld auf einen Kompromiss geeinigt. Um einschätzen zu können, was der taugt, hilft ein Blick ins Ausland. Die Erfahrungen sind zum Teil furchtbar.
Von Thorsten Giersch
Der Weg ist frei, jetzt muss er nur noch irgendwohin führen: Nach tagelangem Ringen haben die Ampel-Koalition und die Union den Weg für das an Januar geplante Bürgergeld freigemacht. Bei den zwei wesentlichen Streitpunkten fanden beide Seiten grundsätzlich zusammen, Details müssen ab Mittwochabend im Vermittlungsausschuss final geklärt werden. Wenn das bis Ende November gelingt, wovon die meisten Beobachter ausgehen, kann das Bürgergeld wie geplant ab 1. Januar 2023 Hart IV ersetzen. Die sogenannte Karenzzeit mit milderen Regelungen, ursprünglich für 24 Monate angesetzt, soll nur noch 12 Monate betragen. Auch beim Schonvermögen setzte die Unionsseite eine Kürzung von 60.000 Euro auf 40.000 Euro durch. So soll es unter anderem künftig ab dem ersten Tag Sanktionen in Form von Leistungsentzug geben können - die waren ursprünglich erst nach sechs Monaten vorgesehen. Die sogenannte Vertrauenszeit von sechs Monaten soll also gänzlich entfallen. Wer bestimmte Pflichten verletzt, etwa einen Termin bei der Arbeitsagentur nicht wahrnimmt, der muss mit finanziellen Einbußen rechnen. Offen ist noch, wie schmerzhaft die sind.
So technisch und kleinteilig die Regelung auf den ersten Blick ausschaut: Es ging zuletzt um sehr grundsätzliche Fragen, die auch noch nicht final geklärt sind: Was ist gerecht? Was darf man von Arbeitslosen verlangen? Welches Menschenbild prägt die politisch Handelnden und wie geht die SPD mit ihrer Vergangenheit um, sprich der Agenda 2010? Bundesarbeitsminister Hubertus Heil ist der Vater des Bürgergelds und musste mit ansehen, wie sein Vorhaben im Bundesrat von mehreren Bundesländern gestoppt wurde – allen voran denen, wo CDU und CSU mitregieren. Die Union war unter anderem gegen die Aufweichung der Sanktionen gegenüber Arbeitslosen: Die Bürgergeld-Reform sieht vor, dass denen, die nicht mit ihrem Berater im Jobcenter kooperieren, kaum Leistung gestrichen werden kann. Das Prinzip „Fördern und Fordern“, das es nicht erst seit der Agenda 2010 gibt, sondern schon in der Bibel steht, gelte nicht mehr.
Wer das, was kommt, einschätzen will, sollte ins Ausland blicken: Einen guten Vergleich, wie viel Geld hierzulande für Sozialausgaben ausgegeben wird, bietet die OECD: 2019 kam Deutschland auf einen Wert von 25,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die für Soziales ausgegeben wurden. Italien (28,2 Prozent), Belgien (28,9 Prozent) und Frankreich (31 Prozent) liegen darüber, Großbritannien mit 20,6 Prozent deutlich darunter. Wer das System dort und das in Frankreich analysiert, erhält Hinweise darauf, was rund um das Bürgergeld auch in Deutschland gut und schlecht laufen könnte.
Menschliche Dramen in Großbritannien
Unter Premierminister David Cameron begann die britische Regierung ab 2013 einen massiven Umbau des Sozialsystems. Sechs staatliche Leistungen, allen voran das Arbeitslosengeld, wurden im sogenannten Universal Credit zusammengefasst. Das Sozialsystem sollte gerechter, unkomplizierter und effizienter werden. Die Haltung hinter dem Projekt war, dass man es Beziehern staatlicher Leistungen schwerer machen wollte, sich in der sozialen Hängematte wohlzufühlen. Die Anreize sollten hoch sein, sich wieder einen Job zu suchen. Damals gab es in London von mehreren Parteien Zustimmung.
Es dauerte jedoch nicht lange, bis sich die Probleme häuften. Eigentlich sollten von 2013 bis 2017 die meisten Leistungsempfänger in das Universal-Credit-System überführt werden, aber neben Managementfehlern gab es technische Probleme. Das kostete Milliarden Pfund – und jede Menge Zeit. Zieldatum für die Umstellung ist nun 2024. Und die Folgen für viele Leistungsempfänger waren erheblich, viele gerieten durch die Umstellung unverschuldet in finanzielle Not. Die Denkfabrik Resolution Foundation hat errechnet, dass 2,5 Millionen berufstätige Haushalte, die auf Hilfen angewiesen sind, wegen der Umstellung heute mehr als 1000 Pfund weniger im Jahr zur Verfügung haben.
Viel hilft in Frankreich nicht viel
Laut OECD gab Frankreich 2019 satte 31 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Soziales aus – über fünf Prozentpunkte mehr als Deutschland. Da wundert es nicht, dass auch Frankreich derzeit an einer Reform der Grundsicherung arbeitet. Nur dass hier die bisher geltenden Regelungen verschärft werden sollen. Bisher bekommt das sogenannte „Revenue de Solidarité Active“ (RSA), wer mindestens 18 Jahre alt ist und entweder keinerlei Ansprüche auf Arbeitslosengeld erworben hat oder aber Arbeitslosengeld für eine maximale Dauer erhalten hat. In Zukunft sollen die, die das RSA bekommen, als Gegenleistung zwischen 15 und 20 Stunden pro Woche arbeiten oder eine Fortbildung im selben Stundenumfang durchführen. Ziel ist, Empfänger zu motivieren und zu befähigen, dauerhaft in einen Beruf zurückzukehren. Das funktioniert in Frankreich bisher nur bedingt.
Derzeit bekommt der französische Langzeitarbeitslose mehr als der deutsche Hartz-IV-Empfänger, was gerade für die Konservativen und Rechten in Frankreich ein Anlass zu Kritik ist. „Je nach Haushaltssituation lebt es sich mit Sozialhilfen besser, als wenn man einer Arbeit nachgeht,“ argumentiert etwa der konservative Pariser Think Tank iFRAP. Große Parallelen zwischen dem deutschen Bürgergeld und Frankreichs IST-Zustand gibt auch in folgender Hinsicht: Die Sanktionsmöglichkeiten sind kaum vorhanden und die Arbeitslosen können viel Glück oder Pech haben, an wen sie bei der Behörde geraten – die Betreuung ist mitunter sehr unterschiedlich.
Nur ein Viertel der Hartz-IV-Empfänger würde Sanktionen streichen
Zurück nach Deutschland und wie es um das Gerechtigkeitsempfinden hierzulande bestellt ist: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und die Ruhr-Universität Bochum haben 560 Langzeitarbeitslose in acht Jobcentern befragt, was sie für richtig und gerecht halten. 41 Prozent stimmten „voll und ganz zu“ auf die These, dass es „viele Hartz-IV-Bezieher gibt, die das System ausnutzen“. Weitere 24 Prozent stimmen „eher zu“, lediglich zehn Prozent stimmten „eher nicht zu“ oder „gar nicht zu“. Zwei Drittel der befragten Langzeitarbeitslosen antworteten mit „ja“ auf die Frage, ob viele Hartz-IV-Empfänger das System ausnutzen.
Ähnlich kontrovers ist die Meinung unter den Befragten bei dem Thema Sanktionen: Nur rund die Hälfte ist dafür, dass Jobcenter Strafen abschaffen, wenn wer nicht zur Fortbildung und zum Job erscheint. Ungefähr ein Viertel ist dagegen, der Rest unentschlossen. Die Ergebnisse würden laut der Studienleiter zeigen, dass Langzeitarbeitslose im Hinblick auf ihre Werte und Gerechtigkeitswahrnehmung keine homogene Gruppe sind. Viele Hartz-IV-Empfänger wollen vom Staat fair und gerecht behandelt werden. Sehen aber auch, dass sich viele von ihnen selbst nicht entsprechend verhalten, sondern das System ausnutzen. Unterm Strich kann Hubertus Heil also nicht behaupten, dass sein Bürgergeld-Ansatz unter den Langzeitarbeitslosen als gerecht gelten würde.
22.11.2022 | 16:02