
Marion Zerlin ist seit 1. August 2023 Geschäftsführerin -Forschung & Entwicklung bei Sanofi in Deutschland. Sie steht als erste Frau an der Spitze des integrierten Forschungs- und Entwicklungszentrums von Sanofi in Frankfurt/Main. (Foto: © Sanofi)
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KI-Revolution in der Pharmaforschung: Warum Deutschland im globalen Wettbewerb aufholen muss
Deutschland ist hier nicht immer wettbewerbsfähig
Marion Zerlin, Forschungschefin von Sanofi Deutschland, über künstliche Intelligenz, die Rolle von Patientendaten und innovative Entwicklungsansätze.
Wirtschaftskurier: Frau Zerlin, war Ihr Job angesichts der Fortschritte bei künstlicher Intelligenz jemals so spannend?
Marion Zerlin: Jede Phase in der Forschung birgt interessante Aspekte, jedoch sind die Fortschritte dank KI rasanter denn je, was es derzeit besonders spannend macht. Wir können jetzt Entwicklungen in einem Tempo vorantreiben, das noch vor kurzem in weiter Ferne lag. Das kommt den Patient*innen zugute, die noch schneller von innovativen Therapien profitieren können.
Wirtschaftskurier: Welche Rolle spielen Robotics und KI für Sanofis Arzneimittelentwicklung?
Marion Zerlin: Digitalisierung im Gesundheitswesen und besonders KI sind Innovations- und Wachstumstreiber, die die Gesundheitsversorgung in den nächsten Jahren deutlich verbessern werden. Bei Sanofi haben wir eine klare Ambition: Wir wollen das führende Biopharma-Unternehmen sein, das KI im großen Maßstab anwendet. Unser Motto lautet „All in on AI“: Wir setzen auf KI in allen Unternehmensbereichen. Unsere Wissenschaftler*innen in Frankfurt haben KI bereits in vielen verschiedenen Phasen der Wirkstoffentwicklung implementiert. Kombiniert mit Robotik generieren unsere Forscher*innen beispielsweise in iterativen, durch KI gestützten Zyklen große Datensätze, um neue Wirkstoffkandidaten zu entwickeln und zu optimieren.
Wirtschaftskurier: Wie setzen Sie KI ein? Bei welchen Krankheiten ist die Technologie -besonders hilfreich?
Marion Zerlin: Viele Erkrankungen werden vom Immunsystem beeinflusst. Es spielt eine Rolle bei Autoimmunerkrankungen, wie Asthma oder Atopische Dermatitis, entzündliche Darmerkrankungen oder Multiple Sklerose, auch in der Onkologie. Mit unserem Ansatz der „Immunoscience“ untersuchen wir die Mechanismen des Immunsystems, um diese effektiv zur Entwicklung neuer Therapieansätze zu nutzen. Hier kommt KI zum Einsatz. Beispielsweise hilft sie unseren Wissenschaftler*innen bei Analysen großer Datenmengen, um immunologische Zusammenhänge zu verstehen. Das ermöglicht spezifischere Wirkstoffe und mehr personalisierte Medizin. Also -Behandlungsansätze, die noch individueller auf Patientengruppen zugeschnitten sind.
Wirtschaftskurier: Und?
Marion Zerlin: Zur Entwicklung dieser Wirkstoffe nutzen wir auch Modelle virtueller Patienten, sogenannte digitale Zwillinge. Diese helfen uns mittels Computersimulationen, Therapien zu optimieren. Zum Beispiel können wir hiermit vorab testen, wie vorgesehene Dosierungen eines neuen Medikaments wirken oder ermitteln, wie sich ein Wirkstoff in unterschiedlichem Therapiekontext verhalten könnte. KI unterstützt uns somit in verschiedenen Phasen von über 80 Projekten unserer Entwicklungs-Pipeline. Diese sind für ein breites Spektrum von Erkrankungen vorgesehen, und zwar in der Immunologie, Neurologie und Onkologie sowie bei seltenen Krankheiten, aber auch als Impfstoffe. Mittelfristig, bis Ende 2026, sind 16 Zulassungsanträge geplant.
Wirtschaftskurier: Wie würden Sie die globale Wettbewerbssituation beschreiben?
Marion Zerlin: Wir befinden uns im globalen Wettbewerb und konkurrieren mit absatzstarken amerikanischen und chinesischen Märkten, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten aktiv in die Etablierung einer innovativen Forschungs- und Entwicklungslandschaft für Biopharmazeutika investiert haben. Deutschland ist hier nicht immer wettbewerbsfähig. Wir sind als Land – und als Kontinent Europa – trotz hervorragender Grundlagenforschung derzeit nicht ausreichend gut darin, aus Ideen Innovationen zu entwickeln, die dann auch verfügbar sind. In den 1990er-Jahren stammten 50 Prozent aller innovativen Therapien aus Europa; aktuell sind es nur noch 20 Prozent.
Wirtschaftskurier: Wie nehmen Sie die Rahmenbedingungen in Deutschland wahr?
Marion Zerlin: Deutschland hat im internationalen Vergleich enormen Aufholbedarf, wenn es um den Digitalisierungsgrad und den Zugang zu Gesundheitsdaten geht. In anderen Ländern wurde der Zugang auch für die Pharmaindustrie längst als Standortfaktor begriffen, um gezielt die Gesundheitsindustrie anzuziehen. Beim Thema Zugang zu Gesundheitsdaten landet Deutschland unter 22 Staaten der OECD-Gesundheitssysteme auf dem drittletzten Platz. Dabei sind medizinische Daten für Forschung und Entwicklung unerlässlich und der Schlüssel zu medizinischem Fortschritt. Die Politik hat inzwischen auf allen Ebenen die Bedeutung der Pharmaindustrie als Schlüsselindustrie erkannt und zuletzt wichtige Maßnahmen zur Stärkung unserer technologischen Souveränität ergriffen. Das Gesundheitsdatennutzungsgesetz regelt seit März 2024 den Zugang zu anonymisierten und pseudonymisierten Gesundheitsdaten auf Anfrage für Forschungszwecke der Industrie.
Wirtschaftskurier: Muss mehr getan werden für Digitalisierung und KI-Forschung?
Marion Zerlin: Wenn wir im globalen Wettbewerb aufholen wollen, unbedingt. Für einen starken Gesundheitsstandort benötigen wir auf Basis des Gesundheitsdatennutzungsgesetzes ein interoperables Gesundheitsdatenökosystem mit strukturierten und hochwertigen Daten. Es ist notwendig, dass neben dem Forschungsdatenzentrum sukzessiv weitere Datenquellen in eine öffentliche Forschungsinfrastruktur integriert werden. Idealerweise auch klinische Studien und prospektive Beobachtungsstudien. Rund 90 Prozent der in Deutschland durchgeführten klinischen Studien sind von der pharmazeutischen Industrie initiiert. Vor diesem Hintergrund muss das Ziel sein, ein Gesundheitsdatenökosystem, das nach FAIR-Prinzipien (Findable – Auffindbar, Accessible – Zugänglich, Interoperable – Interoperabel und Reusable – Wiederverwendbar) gestaltet ist und private Forschung gleichberechtigt einbindet, aufzubauen.
Wirtschaftskurier: Wie stehen Sie zum Datenschutz in Deutschland?
Marion Zerlin: Für Patient/-innen ergeben sich viele Vorteile, wenn mittels moderner Technologien die Gesundheitsversorgung gestärkt werden kann. Ich denke, dabei ist entscheidend, eine ausgewogene Balance zwischen Datenschutz und Datennutzung zu finden. Datenschutz und innovative Gesundheitsforschung sollen ineinandergreifen und gemeinsam gedacht werden. Die Gesundheitsdaten, die in der industriellen Forschung verwendet werden, sind stets anonymisiert oder pseudonymisiert. Damit die Forschung ein Antragsrecht zur Nutzung der Daten erhält, ist eine Einwilligung der betroffenen Personen erforderlich. Jeder Datenbeitrag zählt und hilft, die Forschung weiter voranzubringen.
Wirtschaftskurier: Woran machen wir am besten fest, dass genug geforscht wird?
Marion Zerlin: Das finanzielle Volumen ist wichtig, aber nicht allein. Auch wenn die Grundlagen- und angewandte Forschung hierzulande (noch) auf Weltniveau ist, drohen wir dieses zu verlieren. In Deutschland verpassen wir Chancen, uns international zu positionieren. Das erfordert unter anderem auch eine intensivere Zusammenarbeit zwischen Akademia und Start-ups sowie forschenden Gesundheitsunternehmen. Letztere sowohl als Ideenschmiede als auch, um die Arzneimittel zu entwickeln, herzustellen und zu den Patient*innen zu bringen. Forschung benötigt hierzulande eine effiziente Forschungs- und Innovationspolitik mit einer abgestimmten Mischung aus verlässlichen Rahmenbedingungen. Nur wenn Ideen auch kommerzialisiert werden und Unternehmen die Grundlagen für schnelles Wachstum vorfinden, lohnen sich Investitionen in neue Produkte und Geschäftsideen.
Wirtschaftskurier: Mit welchen Partnern arbeitet Sanofi zusammen?
Marion Zerlin: Kooperationen und Partnerschaften sind für Sanofi von zentraler Bedeutung, das gilt auch für die Zusammenarbeit zwischen Akademia und Industrie. Sie bieten weitere Chancen, um in den Bereichen KI und Forschungsinnovation weiter voranzukommen und ermöglichen uns, gemeinsam an wichtigen Zielen zu arbeiten: der Identifizierung neuer Targets, der Entwicklung robuster Krankheitsmodelle basierend auf umfangreichen Datensätzen oder neue Einblicke in biologische Mechanismen. In „Open Targets“ arbeiten wir beispielsweise mit akademischen und anderen Industriepartnern zusammen, um die Identifizierung und Priorisierung von Ansatzpunkten in der Krankheitsbiologie systematisch zu verbessern. Wir sind überzeugt, dass Forschungskooperationen und der Austausch zwischen Wissenschaft und Wirtschaft eine bedeutende Basis für Innovationen sind.
Das Gespräch führte Thorsten Giersch.
20.03.2025 | 09:16