Linde ist zu gut – für den DAX
Wenn’s am schönsten ist, soll man gehen: Die Linde plc, altehrwürdiges Mitglied des Deutschen Aktienindex, verlässt nach der Entscheidung der Hauptversammlung am Mittwoch den Club der vierzig wichtigsten Unternehmen. Wegen anhaltenden Erfolgs. Als Nachfolger könnte ein Kriegsgewinner aufrücken.
Der DAX kannte den Begriff „Deckelung“ schon, als der für den energiehungrigen Deutschen noch kein Thema war. Um eine Unwucht in der Auswahl der 30, später dann 40 deutschen Unternehmenschampions zu vermeiden, ist die Gewichtung eines einzelnen Mitglieds auf zehn Prozent begrenzt. Gäbe es das nicht – Linde wäre schon oft durch die Decke gegangen. Der 1879 vom Kältetechnik-Pionier Carl von Linde in Wiesbaden gegründete Gasehersteller ist nicht nur in Deutschland, sondern weltweit ein Ausnahmeunternehmen. Zumal seit 2018, als die Fusion mit der amerikanischen Praxair das Lebenswerk der Grauen Eminenz von Linde, Chairman Wolfgang Reitzle, krönte.
Im Rahmen dieser Fusion änderte sich für den altehrwürdigen Konzern einiges. Mit dem neutralen Firmensitz Irland und der Gesellschaftsform plc (public limited company) wollte man unterstreichen, dass es eine Fusion unter Gleichen werden sollte. Die Notierung sowohl im amerikanischen Börsenindex Standard and Poor’s 500 und im DAX 30 machte Linde zu einem der wenigen Unternehmen mit diesen beiden Börsenlistings. Dennoch – die Prägung wurde angelsächsisch, was bei deutschen Fondsgesellschaften leise Zweifel an der wirklich gleichberechtigten Fusion aufkommen ließ. Solange Linde im DAX war, machte dies aber für das Geschäft der großen Fondsgesellschaften wie Deka, DWS oder Union Investment, und ihre investierten Milliarden in den Wert, keinen entscheidenden Unterschied.
Das ist jetzt anders. Der Beschluss der Hauptversammlung des Konzerns fiel deutlich aus: Mehr als 90 Prozent der Stimmen votierten für den Ausstieg. Und so verlässt das wertvollste Unternehmen den DAX. Und damit auch die bedeutenden europäischen Indizes. Linde ist 150,7 Milliarden Euro wert und liegt damit deutlich vor den anderen Schwergewichten SAP und Siemens. Das macht rund zehn Prozent der Gewichtung aller DAX-Unternehmen aus – wieder einmal. Schon mehrfach musste die Berechnung der Anteile im Aktienindex angepasst werden, weil Linde die Kappungsgrenze, die bei genau diesen zehn Prozent liegt, erreicht hatte. Auch die Ausweitung der Mitglieder von dreißig auf vierzig verschaffte nur kurzzeitig Luft.
Das Management des Konzerns unter Sanjiv Lamba dürfte öfters darüber nachgesonnen haben, welchen Anteil am Index ihre Linde wohl einnehmen würde, ließe man sie nur weiter wachsen – an Größe und Bedeutung. International betrachtet ist die Performance der Aktie am deutschen Markt nicht die, die sie sein könnte. Aber eine Aufweichung der Regel hätte für die Deutsche Börse, und die Anleger, eine Einbuße an Vielfalt bedeutet. Ein Aktienindex, der eine repräsentative Bandbreite der deutschen Unternehmenslandschaft, vor allem deren Spitze, darstellen will, sollte nicht von einem Konzern quasi erdrückt werden können: In diesem Fall also: Erst Linde und dann lange nichts. Wichtig ist dies unter dem Strich auch für die Investmentfonds, die den Index in ihren Publikumsfonds abbilden wollen und dann auch müssen. Das Wohl und Wehe eines einzelnen Unternehmens unter zehn Prozent Anteil ist auch so schon wichtig für den Kursverlauf des gesamten Fonds, was besonders für die drei oder vier ganz Großen unter den DAX-Mitgliedern gilt: Wenn Siemens hustet, bekommt Fresenius ganz sicher einen Schnupfen. Aber was würde erst passieren, wenn ein Unternehmen mit einem noch größeren Anteil am Dax existierte und sich verschluckte? Das sollte nicht sein, weswegen es die Regel gibt.
Unglücklich zeigt sich das Deutsche Aktieninstitut über den Verlust. Man sehe wieder einmal, dass Deutschlands Aktienmarkt an Bedeutung hinter den USA doch deutlich hinterherhinke, so Chefin Christine Bortenlänger. Wobei das Institut gerade erst über eine deutliche Zunahme der Zahl deutscher Aktionäre berichtete, ob trotz oder wegen der Corona-Pandemie, ist noch offen. Wenig erfreut zeigen sich auch die Gewerkschaften. Sonst nicht unbedingt am Börsenwohl in erster Linie interessiert, bedeutet für die IG Metall der Wegzug der Linde-Aktien doch eine Einbuße an Einfluss – man fürchtet eine weitere Zunahme angelsächsischer Firmenkultur gegenüber deutschen Gepflogenheiten.
Linde selbst sieht sich als internationaler Konzern und den Abschied vom Frankfurter Kurszettel als schlichte Notwendigkeit: Da wächst auseinander, was auseinander gehört. Denn das Handelsvolumen an der Wall Street ist ohnehin deutlich höher als in Frankfurt, steuerlich ist man in Großbritannien angesiedelt, deutscher Sitz ist München und die Rechtsform wie gesagt – irisch. Gesteuert wird der Koloss großteils aus Connecticut, USA, wo Praxair beheimatet war. Übrigens wuchs da 2018 nun nach einhundert Jahren wiederum zusammen, was nach Meinung altgedienter Linde-Fans auch zusammengehört. Denn Praxair war unter dem Namen Linde Air Products ebenfalls eine Gründung von Stammvater Carl von Linde. Im Ersten Weltkrieg konfiszierten die USA das Unternehmen und führten es mit der Union Carbide zusammen. Beide Linde-Unternehmen wirtschafteten so erfolgreich, dass die Fusion den neuen Linde-Konzern an die Weltspitze katapultierte – vor dem wichtigsten Konkurrenten Air Liquide aus Frankreich. Das Geschäft mit Industriegasen im weitesten Sinne gewinnt fast zwangsläufig immer mehr und kontinuierlich an Bedeutung. Ob in der Medizin, Chemie, der Energiewandlung (grüner Wasserstoff) oder der Prozesstechnik, der Umwelt- und Verpackungsindustrie. So schmerzlich es für die deutsche Börsenwelt sein mag – international wird Linde an Gewicht gewinnen können.
Für ein anderes Unternehmen bringt das alles wahrscheinlich den Aufstieg: Es wird schließlich ein Linde-Nachfolger gesucht. Beste Chancen für eine Aufnahme in den DAX im März hat nach jetzigem Stand der Rüstungskonzern Rheinmetall – was dann eine echte Kriegsgewinner-Geschichte wäre.
Reinhard Schlieker
18.01.2023 | 18:18