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Macher der Woche: Michael Müller

Der Verleger von Reisebüchern ist ein Fall fürs Lehrbuch: Weil kein Mensch mehr reiste, rutschte das Unternehmen in die Krise. Doch die Corona-Pandemie hat dem Verlag zu einem Schub in der Digitalisierung verholfen. Jetzt soll ein von Grund auf renovierter Reiseführer alte und neue Welt verknüpfen.

Ein Auto ohne Treibstoff taugt so viel wie eines ohne Räder. Und Tourismus in einer Welt, in der jeder zu Hause bleibt, weil er oder sie Angst haben, sich mit einem Virus zu infizieren, steht still. Michael Müller weiß das. Schmerzlich. Seit mehr als 40 Jahren ist er der Namensgeber jener Michael-Müller-Reiseführer, die inzwischen mehr als 230 Ziele in der Welt liebevoll beschreiben. Einer Serie, die hierzulande zu den erfolgreichsten Reiseführern bei denen führen, die auf eigene Faust loswollen. Da ist es existenzbedrohend, wenn Statistiken, wie die der Welttourismusorganisation ausweisen, dass in der vergangenen Saison etwa eine Milliarde weniger Touristen unterwegs waren als noch im Vorjahr. Wer eine Liste der Pandemie Verlierer aufschreibt, müsste also Müller irgendwo im oberen Drittel führen.

Aber der Verleger aus Erlangen, der mit wild-schütterem Haar, einer drahtigen Brille und einem Gesicht, in dem offenbar jede Reise irgendwo ihre Spuren hinterlassen hat, direkt vom legendären Woodstock-Festival in den Verlag gestürmt sein könnte, will runter von dieser Liste. Er will, dass es wieder losgeht. Und er hat die vergangenen Monate des Daheimbleibens genutzt, so sagt er, um etwas Revolutionäres zu machen: eine App, die wie ein E-Book daherkommt. Gut – beides ist nicht unbedingt revolutionär, aber die Verbindung, so meint zumindest Müller, sei ihm doch außerordentlich gut gelungen. Als Philanthrop geht es ihm darum, den Schmökereffekt, den ein Buch bietet zu erhalten, ohne auf praktische Inhalte wie off- und online Karten, Wanderrouten, Straßenbahnpläne und Restauranttipps zu verzichten. Praktisch soll es eben auch sein. „Für einen Reiseführer brauchst du vier Hände. Für die App eine“, sagt Müller.

Es ist also eine kleine Revolution. Aber auch eine, die wegen Corona vorangekommen ist. So wie das Auto in den vergangenen Monaten selbst bei den deutschen Herstellern mehr und mehr zum Smartphone auf Rädern umgebaut wird, so wie ein Arbeitgeber, der auf tägliche Präsenz pocht, unmodern geworden ist und so wie der Laptop in der Pandemie blitzschnell das Schulbuch abgelöst hat, so hat Corona auch bei Müller positiv eingeschlagen. In einer Umfrage des Branchenverbandes Bitkom gaben 63 Prozent der Industrieunternehmen mit 100 oder mehr Mitarbeitern an, dass ihnen digitale Technologie geholfen hat, die Corona-Pandemie besser zu bewältigen. Gerade in der Corona-Krise hat für viele Unternehmen die Digitalisierung an Bedeutung gewonnen. Laut KfW-Bank haben die Ausgaben im Bereich der Digitalisierung während der Pandemie 2020 deutlich zugenommen. Wer digitalisierte, kam  besser durch die Krise. Nicht viele wissen das besser als Michel Müller, der Mann der in den Siebzigern seinen ersten Portugal-Reiseführer im Selbstverlag erschienen ließ, ist sozusagen ein Lehrbuchfall.

Eigentlich ist er wieder zum Startup geworden. So wie damals, als Müller sich seinen Platz zwischen Baedeker und Dumont erkämpfte. „Wir lebten vom Nimbus des Startups“, sagt der Verleger. Es war noch vor der Krise, als er ein kleines Essay verfasste, das diese Zeit so schön beschreibt: „Die sozialliberale Koalition in Bonn dümpelt ihrem Ende entgegen, Karl Carstens wird zum Bundespräsidenten gewählt und begibt sich sogleich auf präsidiale Wanderschaft durch die deutschen Lande (…) In der fränkischen Provinz erscheint ein schmales Büchlein mit dem Titel „Portugal“.“ Autor, Verleger und Vertriebsmanager in Personalunion ist damals Michael Müller. Ausgestattet ist das Buch mit allen Insignien der Alternativkultur: Pappcover mit überaus bauchiger Titelzeile, innen auf jeder Seite Handstrichzeichnungen, ausladende, mit allerlei Zierrat dekorierte Kapitel-Überschriften, eng gesetzte Texte in Maschinenschrift und mit bisweilen großzügiger Auslegung der damals geltenden Rechtschreibregelung, dazu eine geradezu barock anmutende Angabe der Bezugsquelle: „Erhältlich gegen Voreinsendung eines Schecks über 11,80 DM oder Postscheckkonto.“ Von da bis zur App, vom Ein-Mann-Unternehmen bis zum erwachsenen Verlag sind mehr als 40 Jahre vergangen.

Und es sieht so aus, als wäre die größte Krise in diesen Jahrzehnten seit ein paar Tagen vorüber. „Der Markt war um 60 Prozent eingebrochen. Jetzt explodiert er wieder. Deutschland, Griechenland, Sardinien, Toskana - alles zieht an. Überall, wo man mit dem Auto hinfahren kann“, sagt Müller, dessen erster Reiseführer neben Tipps zum gesunden Braunwerden auch Hinweise zu brauchbaren Autoschraubern enthielt. Die Welttourismusorganisation kann ihm sogar besondere Hoffnung machen: Die Experten sagen voraus, dass Reisen großen Veränderungen unterworfen sein wird. Es werde eine steigende Nachfrage nach touristischen Aktivitäten im Freien und naturnahen Erlebnissen geben. „Slow Travel“ taufen sie den Trend. Nicht möglichst viele Sehenswürdigkeiten in möglichst kurzer Zeit, sondern Verweilen sei das Ziel. Also nichts für Hastige. Zu denen hat Müller noch nie gehört.

Oliver Stock

11.06.2021 | 15:42

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