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Macherin der Woche: Claudia Roth

Die künftige Kulturstaatsministerin polarisiert, wie kaum eine andere Spitzenpolitikerin. Dabei bedient sie, die älter gewordenen Rebellen in ihrer Partei und ist eine Heldin für all diejenigen, für die „multikulti“ das Gegenteil von einem Schimpfwort ist. Einmal wäre sie beinahe im Punk statt in der Politik gelandet.

Dass sie einmal das Urgestein sein würde – eine Bezeichnung, die ja stets mit reiferem Alter zu tun hat – Claudia Roth hätte sich über die Vorstellung kaputt gelacht. Das war damals als sie Ende siebziger Jahren ihr Theaterstudium in München nach nur zwei Semestern an den Nagel hängte, um in Dortmund als Dramaturgin anzufangen. Das Projekt währte ein paar Monate und danach kam eine Phase ohne Arbeit, von der die Grünen-Spitzenpolitikerin später, als sie schon für Zeitschriften wie die Gala eine begehrte Gesprächspartnerin war, sagte: „Es war die schlimmste Zeit in meinem Leben mit Verlustangst und immer weniger Selbstvertrauen. An einem gewissen Punkt wusste ich nicht mehr: Kann ich überhaupt was? Zum Glück hat das nicht lange gedauert, und dann ging immer alles ratzfatz weiter bis heute. Das ist ein sehr glückbeseeltes Leben.“

Ratzfatz ist Claudia Roth mittlerweile 66 Jahre alt und damit tatsächlich in einem reiferen Alter. Seit einigen Tagen ist sie die gesetzte Kandidatin für das Amt der Kulturstaatsministerin, das eigentlich für die SPD vorgesehen war. Doch jetzt soll sie es machen, es ist ihr erstes Regierungsamt. Und sie soll dort das einbringen, was ihre Stärke ist: Auffallen, sich engagieren, polarisieren und niemals die gute Laune verlieren. Als Richtschnur dient ihr ein Ausspruch des Dichters Bertolt Brecht: „Ändere die Welt, sie braucht es." Dieser Satz, so hat Roth einmal zu Protokoll gegeben, sei ihr Karriereplan.

Sie hat sich davon nicht abbringen lassen, nicht durch kübelweise Beschimpfungen, die sie in sozialen Netzwerken über sich ergehen lässt, und auch nicht durch harte Angriffe von politischen Gegnern. Wobei die, die ihr nahegekommen sind, sie schätzen. Die gebürtige Ulmerin pflegt eine fast schon legendäre Freundschaft mit der einstigen CSU-Größe Günther Beckstein: „Alle Meinungen, die Claudia vertritt, halte ich für falsch", sagte Beckstein mal in einem gemeinsamen Interview. Roth erwiderte: „Geht mir genauso mit dir!" Und ergänzte: „Der Günther bleibt sich treu, das schätze ich." Bayerns Grünen-Fraktionschef Ludwig Hartmann, den der Bayerische Rundfunk jetzt gefragt hat, was ihm als erstes zu Claudia Roth einfällt, sagt sofort: „Die Umarmungen.“ Man dürfe sich eine Claudia-Roth-Umarmung auch nicht als „Pseudo-Umarmung“ vorstellen, ergänzt er. „Sondern sie drückt einen so richtig an sich, als wäre man Teil ihrer Familie."

In ihrer politischen Familie hat sie inzwischen zumindest den Tanten-Status erreicht. Gut 20 Jahre Abgeordnete im Bundestag, rund zehn Jahre Bundesvorsitzende der Partei bis 2013, Menschenrechtsbeauftragte der Regierung von Gerhard Schröder (SPD), davor viele Jahre im Europaparlament – Roth und die Grünen, das gehört zusammen wie Thomas Gottschalk und „Wetten das“, nur dass die Grünen die berechtigte Hoffnung haben, weiterzumachen, auch falls Roth einmal nicht mehr dabei ist. Genau wie der Showmaster, der die Narrenfreiheit lobt, die ihm das Fernsehen lässt, ist auch Roth von der Freiheit in genau dem System, das sie immer wieder hinterfragt, überrascht: „Wenn so eine wie ich Vize-Präsidentin im Deutschen Bundestag sein darf und die deutsche Demokratie nach draußen repräsentieren darf, dann zeigt sich doch, dass sich dieses Land sehr verändert hat.“

Beinahe wäre die Dramaturgin damals nicht in der Politik, sondern endgültig im Punk oder zumindest Politrock gelandet. Von 1982 an managte Roth drei Jahre lang die Band „Ton Steine Scherben" um den Sänger Rio Reiser. Sie war mit dem Keyboarder Martin Paul befreundet. Die Truppe lebte in einem Bauernhaus in Nordfriesland, bis sie sich 1985 auflöste. „Keine Macht für niemand“ hieß ihr erfolgreichstes Album. Als Politikerin kann sie so einen Titel nicht unterschreiben, als Mensch würde es ihr jeder zutrauen – und genau von diesem Widerspruch lebt die Kunstfigur Claudia Roth. Der Politikwissenschaftler Franz Walter charakterisiert sie mit Worten, die Wissenschaftlern eben einfallen: Als routinierte Berufspolitikerin, die aber unverfälscht geblieben sei. Als „vitale Repräsentantin der Neuen Sozialen Bewegung“ der 1980er Jahre. Als Vertreterin „einer rebellischen Vergangenheit der Grünen“, die damit nostalgische Sehnsüchte der Parteimitglieder bediene. Es könnte sein, dass Walter recht hat, und die Grünen-Anführer Robert Habeck und Annalena Baerbock sie genau deswegen für das neue Amt vorgesehen haben.

Was wird sie anders machen als ihre langjährige Amtsvorgängerin Monika Grütters (CDU)? „Wir wollen Kultur mit allen ermöglichen", versprechen die Bündnispartner im Koalitionsvertrag, „unabhängig von Organisations- oder Ausdrucksform, von Klassik bis Comic, von Plattdeutsch bis Plattenladen". Der Satz klingt schon so, als hätte ihn Claudia Roth mitformuliert „Multikulti" ist für sie jedenfalls das Gegenteil von einem Schimpfwort.

Offenheit ist für Roth ein Lebensmotto. „Binde dich nicht zu früh an einen Mann und sieh zu, dass du selbstständig bleibst und auf eigenen Beinen stehst", sei ein Ratschlag ihrer Mutter gewesen. Sie hat ihn genau befolgt. Einen Partner fürs Leben jedenfalls hat sie nicht gewählt. Wenn es einen gab, „hat sich das immer schnell wieder relativiert“, sagt sie. Nicht relativiert hat sie dagegen die andere Liebe, die zum politischen Engagement. „Das ist schon eine Form von Abhängigkeit“, sagt sie. Egal, wo sie ist, sie bleibt Politikerin. Zum Beispiel beim Urlaub in der Türkei, wo sie mal eben die Fähre nach Kos nimmt, um vor laufenden Kameras mit Flüchtlingen zu sprechen. Wenn sie dann zurückkommt, beschäftige sie etwas über das eigentliche Thema hinaus. Sie nennt es „die Angst, wie das wird, wenn ich das körperlich nicht mehr schaffe. Was macht den Menschen aus, jenseits des Engagements?“

Oliver Stock

03.12.2021 | 14:31

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