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Hunger und Streubomben: Männer, Frauen und Kinder erleben „apokalyptische Zustände“ im Kriegsgebiet

Durch die Kämpfe in den ukrainischen Städten werden immer mehr Menschen getötet, die mit diesem Krieg gar nichts zu tun haben. Menschenrechtsorganisationen dokumentieren Kriegsverbrechen wie den Einsatz von Streubomben in dicht bewohnten Gebieten. Der Unterschied zwischen Soldaten und Zivilisten verschwimmt immer mehr.

Alina ist 21 Jahr alt, sie studiert und lebt in der ostukrainischen Stadt Tschernihiw. An diesem 3. März um kurz nach zwölf Uhr hält sie sich mit ihrer Familie in der gemeinsamen Wohnung in der Ivana-Bohuna-Straße auf, als ein Geräusch ertönt, das Alina später als „sehr, sehr lautes Summen“ bezeichnet. „Ich spürte, wie unser Gebäude wackelte. Es war, als würde sich unsere Wohnung aufblähen. Und dann, nach zwei Sekunden, hörte ich, wie die Fenster zerbarsten und in den Hof flogen. Unser Gebäude wurde stark erschüttert. Ich dachte, dass keine Wand stehen bleiben würde. Als ich das Summen hörte, rief ich meine Oma zu mir auf den Flur. Wir haben uns auf den Boden gelegt, und das hat uns wahrscheinlich gerettet."

Alina hat ihre Aussage bei Amnesty International zu Protokoll gegeben. Die Organisation kümmert sich um die zivilen Opfer des Krieges in der Ukraine, sie sammelt Dokumente und listet genau auf, was, wo passiert in der Hoffnung, das mit dem Material die Angreifer irgendwann einmal zur Rechenschaft gezogen werden können. Zum Beispiel vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Wie viele zivile Tote der Krieg bereits gefordert hat – glaubhafte Angaben gibt es nicht. Nur Hinweise: Die UN hat mehr als 10 000 gezählt, doch das ist spätestens seit den Kämpfen um Mariupol Makulatur. Das Rote Kreuz spricht von „apokalyptischen Zuständen in der Stadt“. Viele Menschen sind ohne fließendes Wasser, Heizung, Kanalisation und Telefonverbindungen. Einige brechen auf der Suche nach Essbarem in Geschäfte ein, andere schmelzen Schnee, um Wasser zu haben. Die Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, Ljudmyla Denisowa zählt seit Kriegsbeginn mindestens 70 getötete Kinder.

Zu diesen Opfern kommen die Flüchtlinge, die Hab und Gut aufgeben und nur noch raus wollen aus dem Land, rund 1,43 Millionen Menschen sind aus der Ukraine allein ins Nachbarland Polen geflohen, teilt der polnische Grenzschutz mit. Alle erleben Angst und Not, während sie darum kämpfen, einen Weg zur Grenze zu finden, lange Schlangen bei eisigem Wetter zu überstehen und sich von ihren Angehörigen zu verabschieden. Nach dem Einmarsch der russischen Armee am 24. Februar wurde das Kriegsrecht verhängt. Danach unterliegen ukrainische Männer zwischen 18 und 60 Jahren der Wehrpflicht und dürfen das Land nicht verlassen. Die Trennungsszenen, hundertfach auf Youtube zu finden, sind herzergreifend.

Bei dem russischen Luftangriff auf Tschernihiw, den die Studentin aus rettender Entfernung miterlebt hat, wurden 39 Männer und neun Frauen, alles völlig unbeteiligte Menschen, auf einem nahegelegenen Platz durch mehrere Bomben getötet. Der Angriff „könnte ein Kriegsverbrechen darstellen“, sagen die Menschenrechtsaktivisten von Amnesty. Die Organisation hat für die Ukraine ein Krisenteam gebildet, das solche Fälle genau dokumentiert. Demnach schlugen acht ungelenkte Fliegerbomben – sogenannte „dumb bombs" – ein. „Der Luftangriff auf Tschernihiw ist schockierend. Dies war ein erbarmungsloser, wahlloser Angriff auf Menschen, die zuhause, auf der Straße oder in den Läden ihrem Alltag nachgingen", sagte Joanne Mariner, Direktorin des Krisenteams von Amnesty International. Sie fügt hinzu: „Dieser schockierende Angriff ist einer der tödlichsten, den die Menschen in der Ukraine bisher ertragen mussten. Die Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs sollte diesen Luftangriff als Kriegsverbrechen untersuchen. Diejenigen, die für solche Verbrechen verantwortlich sind, müssen zur Rechenschaft gezogen und die Betroffenen und ihre Angehörigen müssen voll entschädigt werden."
 


Amnesty konnte am Ort des Angriffs oder in dessen Nähe kein legitimes militärisches Ziel identifizieren. Satellitenbilder vom 28. Februar zeigen eine Menschenschlange vor einem Gebäude, das bei dem Angriff getroffen wurde. Anhand dieser Bilder und Zeugenaussagen geht Amnesty International davon aus, dass die meisten Opfer für Essen anstanden, als die Raketen einschlugen.


In dieser Einschätzung der Menschenrechtsorganisation wird ein Dilemma sichtbar, das der aktuelle Krieg schonungslos offenbart. Wenn Amnesty davon spricht, dass „kein legitimes militärisches Ziel“ ausgemacht werden konnte, dann ahnen die Aktivisten, dass sie sich mit ihrer Einschätzung auf dünnem Eis bewegen. Denn die Unterscheidung zwischen zivil und militärisch ist in einem Krieg, in dem Militär und Zivilgesellschaft gemeinsam auftreten, kaum durchzuhalten. Vor allem dann nicht, wenn die Ukraine alle Ressourcen für die Verteidigung nutzt.

Die Zeitschrift „Stern“ hat jüngst in einem Fachbeitrag die Grenzen der „zivilisierten" Kriegsführung beschrieben. Die Idee stammt aus einer Zeit, in der die militärischen Entscheidungen, wenn irgend möglich, in Schlachten auf dem offenen Feld gesucht worden sind. Heute vermischt sich das. „Das beginnt bei einfachen Dingen wie den Handynetzen. Eigentlich eine rein zivile Einrichtung, die auch von Soldaten benutzt wird, vor allem dann, wenn es einen Mangel an eigenen militärischen verschlüsselten Funkgeräten gibt. Doch die Nutzung zum Zweck der Kriegsführung verändert den Status dieser Netze.“ Während das noch eine Grauzone ist, sind Standorte von Rüstungsindustrie, Militärverwaltungen und Rekrutierungsbüros eindeutig militärische Ziele, sie liegen aber meist in Städten oder Gewerbegebieten und zwar „nicht aus einem perfiden Kalkül heraus, sondern weil es im Frieden praktischer ist“. Im Kriegsfall wird das zum Problem.

Genauso wie die Bewaffnung von Zivilisten, die damit zu Partisanen werden und als irreguläre Kämpfer gar keinen Schutz mehr unterliegen. „Wenn man sich am Wehrwillen ganz normaler ukrainischer Frauen erfreut, die in den Innenhöfen von ganz normalen Gebäuden Molotowcocktails anmischen, sollte man dazu sagen, dass es dann keine ganz normalen Gebäude mehr sind“, heißt es in dem Beitrag.

Dazu kommt: Die ukrainische Armee ist der russischen weit unterlegen, sie muss Gefechte im offenen Gelände vermeiden. Ihre Chance liegt im Überfall aus verdeckten Stellungen heraus, wie sie in Wohngebieten einfach zu installieren sind. Die zivile Bebauung wird damit in die Verteidigungsstellungen integriert. All das trägt dazu bei, dass Menschen, die mit diesem Krieg persönlich gar nichts zu tun haben, ihm zum Opfer fallen.

Dennoch versuchen Menschenrechtsorganisation so genau wie möglich zu dokumentieren, was passiert und es damit dem schnellen Vergessen zu entreißen. Human rights watch etwa hat einen Angriff russischer Streitkräfte am 28. Februar auf drei Wohngebiete in Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, untersucht und nachgewiesen, dass die russischen Truppen die geächtete Streumunition einsetzten. Sie öffnet sich in der Luft und verteilt Dutzende oder sogar Hunderte Einheiten kleiner Submunition über ein großes Gebiet. Oft explodiert sie beim ersten Aufprall nicht und hinterlässt sogenannte Submunitionsblöcke, die bei Berührung wie Landminen wirken.

Interviews mit zwei Zeugen und eine Analyse von 40 Videos und Fotos zeigen, dass Streumunitionsraketen aus russischer Produktion in Charkiw einschlugen. „Die Zivilbevölkerung versteckt sich in Kellern, um den Explosionen und Trümmern zu entgehen“, berichtet Steve Goose, Direktor der Abteilung für Waffen bei Human Rights Watch. „Der Einsatz von Streumunition in bewohnten Gebieten zeigt eine dreiste und rücksichtslose Missachtung von Menschenleben.“

Auch Goose weiß um die heikle Unterscheidung zwischen Militär und Zivil. In dem dokumentierten Fall allerdings ist er sich sicher: Eine Online-Karte zeigt ein als militärisch gekennzeichnetes Gebiet, das etwa 400 Meter von der Stelle entfernt ist, an der die Ladung einer der Raketen einschlug. Satellitenbilder vom 20. Februar zeigen ein kleines Gelände mit etwa 20 Militärfahrzeugen an diesem Ort. Selbst wenn der Ort eine militärische Funktion hatte, verstoße der Einsatz von Streumunition in einem Wohngebiet gegen das Verbot solcher wahllosen Angriffe.

Human Rights Watch sprach telefonisch mit einem Mann, der in der Nähe des Angriffsortes lebt, einem Gebiet mit mindestens drei Vorschulen, drei Schulen und einem großen Krankenhaus. Er sagt, er sei gegen 10 Uhr morgens mit seiner Frau zu einem Geschäft in der Nähe seines Hauses gegangen, als er etwas sah, das er für eine Rakete hielt, die von Norden her über ihn hinwegflog. „Meine Frau und ich liefen in den Keller eines Wohnblocks, in dem etwa 50 andere Menschen Schutz suchten“, erzählt er. „Das ganze Gebäude hat gewackelt.“ „Die Knallgeräusche dauerten etwa zwei Minuten“, berichtet ein anderer und beschreibt damit den typischen Effekt, wenn die Submunition der Streubombe später detoniert. „Als ich aus dem Keller kam, sah ich drei abgedeckte Leichen auf der Straße liegen und eine verletzte Person, die von Rettungsdiensten abtransportiert wurde.“

Oliver Stock

14.03.2022 | 10:07

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