(Foto: Judith Wagner)



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Moskaus Oberrabbiner auf der Flucht: „Als nächstes wird Putin die Grenzen schließen“

Pinchas Goldschmidt war Oberrabbiner in Moskau und ist Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz (CER). Weil er den Krieg nicht unterstützte, musste er das Land verlassen. Er ist das höchste religiöse Oberhaupt, das der Kreml damit zur Flucht gezwungen hat. Er berichtet über seinen Weg der vergangenen Monate und wie er nun anderen jüdischen Flüchtlingen hilft.

Das Gespräch führte Oliver Stock / WirtschaftsKurier

Herr Oberrabbiner, sie haben nach 33 Jahren als Oberhaupt der jüdischen Gemeinde in Moskau das Land verlassen müssen. Was ist passiert?

Es wurde Druck auf mich ausgeübt, dass ich als religiöses Oberhaupt den Krieg unterstützen sollte. Ich sollte ein entsprechendes Statement abgegeben. Das habe ich nicht gemacht. Stattdessen haben meine Frau und ich jeder einen Koffer gepackt und sind ausgereist, zuerst nach Istanbul, dann Warschau, Budapest. Gerade bin ich in Malta, wo die Europäische Rabbinerkonferenz mit der maltesischen Regierung eine Veranstaltung zu den Möglichkeiten neuer Technologien abhält und wir mit unserem CER Prize junge Start-Up’s auszeichnen, die mit ihren Lösungen der Menschheit helfen.

Das sind viele Veränderungen in kurzer Zeit . . .


Das Jahr hat nicht nur mein Leben verändert, es hat die Welt verändert. Jeder Europäer muss verstehen, wie wichtig das europäische Projekt ist. Alle kleinen Länder sind nicht überlebensfähig, wenn Großmächte es auf sie anlegen. Sie müssen zusammenarbeiten. Die EU ist auf der Idee der wirtschaftlichen Zusammenarbeit begründet. Aber der Terrorismus schweißt Europa zusammen. Die Opfer von Charlie Hebdo, der Anschlag in Kopenhagen, in Paris, jetzt der Überfall auf die Ukraine – das führt dazu, dass Europa enger zusammenarbeiten muss.

Ist die Moskauer jüdische Gemeinde eine politische Gemeinde?


Es gibt zwei Strömungen, die eine ist Chabad, der ich nicht angehöre, die Putin stets offen unterstützt. Sie steht auch jetzt zu ihm. Unsere Strömung ist eine andere. Sie war jahrzehntelang entpolitisiert. Aber ich bin inzwischen der Meinung, das ist nicht genug. Wir müssen Stellung beziehen.

Warum jetzt?

Schon aus moralischen Gründen. Zu so einem schrecklichen Krieg kann man doch nicht schweigen, man muss ihn verurteilen. Da kann man nicht neutral sein, selbst in einem autoritären System nicht, das inzwischen ein totalitäres geworden ist. Der Unterschied besteht darin, dass ein totalitäres Regime verlangt, dass jeder mitmacht. Für mich war und ist das nicht machbar.

Das war nicht immer so?

Nein. Mit Boris Jelzin als Präsident setzte eine Renaissance des jüdischen Lebens in Russland ein. Jelzin hatte zahlreiche jüdische Berater in seinem engen Kreis. Unter Putin hat sich das dann geändert.  Ich würde behaupten, dass die letzten 30 Jahre die besten Jahrzehnte waren, die Juden in Russland jemals erleben durften. Aber mit dem Krieg ist die Stimmung völlig umgeschlagen. Die Richtung, in die Russland geht, ist die der alten Sowjetunion zu Stalins Zeiten. Als nächstes wird Putin wahrscheinlich die Grenzen schließen, weil sonst zu viele Männer sich dem Einsatz an der Kriegsfront entziehen. Den Russen droht ein neuer Eiserner Vorhang.

Darf man so etwas in Moskau noch diskutieren?

Sie können dort alles diskutieren, aber höchstens auf der Toilette.

Als Rabbiner sind sie auch Vorbild. Wenn sie gehen, heißt das dann für die Juden in Russland: Geht auch?

Oftmals ist der Rabbiner der letzte, der geht. Das ist wie bei einem Kapitän, der sein Schiff verlässt. Aber der Rabbiner hat auch die Aufgabe, den Weg zu zeigen, denken wir an Moses zum Beispiel. Das ist eine alte jüdische Tradition. Auf hebräisch haben wir früher Schriftstücke immer mit einer Grußformel unterschrieben. Da stand dann sinngemäß: „die Stadt, in der wir gerade lagern“.

Und ihrem Ruf, Russland zu verlassen, sind viele Juden gefolgt?

Ich schätze, dass von den 300 000 Juden in der Gemeinde etwa ein Drittel das Land inzwischen verlassen hat. Die Hälfte ist nach Israel gegangen, die andere Hälfte verteilt sich über viele Länder, ehemalige Sowjetrepubliken, Europa und sogar den Vereinigten Arabischen Emiraten.

Juden auf der Flucht – das ist etwas, das sich in der Geschichte offenbar immer wiederholt. Sind sie ein Rabbiner im Exil?

Ja.

Der Aufbau der Gemeinde in Moskau war ihr Lebenswerk. Und nun?

Die physischen Strukturen sind nicht das Wichtigste. Es kommt auf die Menschen an. Und die bleiben. Überall in der Welt. Wohin ich auch gehe, treffe ich diese Menschen wieder. Ich konzentriere mich jetzt auf meine Arbeit als Präsident der europäischen Rabbinerkonferenz.

In der jüdischen Gemeinde in Moskau hat man sie in Abwesenheit gebeten, weiter Oberrabbiner zu bleiben.

Ja, aber das konnte ich nicht. Solange es keinen politischen Wandel gibt, macht es keinen Sinn, nach Russland zurückzukehren.

Haben Sie Angst, Opfer eines Anschlags zu werden? Der Arm des russischen Geheimdienstes reicht auch in Ausland.

Es gibt inzwischen Millionen von Russen, die außerhalb ihres Landes die Putin-Regierung kritisieren. So viele können die gar nicht treffen.

Was machen Sie konkret?

Ich kümmere mich um die jüdischen Flüchtlinge aus Russland und der Ukraine. Ich habe an einem Grenzbahnhof in Ungarn gestanden, und es war für mich ein Lichtstreif am Horizont zu sehen, dass da ausdrücklich auch jüdische Flüchtlinge willkommen geheißen wurden. Im ersten Schritt haben wir eine Stiftung für diese Flüchtlinge gegründet. Sie unterstützt aus Mitteln der Julia und Juri Milner Stiftung die jüdischen Gemeinden, in denen die Flüchtlinge ankommen. Sie erhalten Essen und ein Dach über dem Kopf. Wir organisieren zum Beispiel koscheres Fleisch und begleiten das Gemeindeleben im Exil. Im zweiten Schritt geht es darum, die Integration zu erleichtern. Viele brauchen auch psychische Betreuung. Und ganz praktisch hat unsere Organisation, die Europäische Rabbinerkonferenz  heute gerade 133 Generatoren für die Ukraine organisiert, weil da nach den Angriffen der Strom ausgefallen ist.  

Was passiert in Russland als nächstes?


Als der Krieg begann, dachten sie im Kreml, er dauert eine Woche. Jetzt redet niemand mehr vom russischen Sieg. Jetzt redet jeder vom ukrainischen Sieg oder zumindest von Friedensverhandlungen. Ich hoffe der Krieg ist so bald wie möglich zu Ende.

23.11.2022 | 12:35

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