Nach Vollgas jetzt die Vollbremsung
Die Europäische Zentralbank hat sich verspekuliert. Anstatt die galoppierende Inflation frühzeitig zu bekämpfen, flutete die EZB die Märkte auch nach dem Kriegsausbruch immer weiter mit neuem Geld. Die Inflation ist daher auch ihr Werk. Nun kehrt die Notenbank endlich um - mit einer massiven Zinswende und allerlei markigen Worten. Der Glaubwürdigkeitsschaden ist aber da. An den Finanzmärkten wünscht man sich Jens Weidmann zurück.
Von Wolfram Weimer
Im August lag die Inflationsrate der Euro-Zone bei beängstigenden 9,1 Prozent. Tendenz steigend. Die Hauptverantwortung dafür liegt bei der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt, die eigentlich den Geldwert hüten soll. Doch das Gegenteil ist in den vergangenen Jahren passiert. EZB-Präsidentin Christine Lagarde verfolgt seit ihrem Amtsantritt Ende 2019 eine außergewöhnlich aggressive, in Finanzkreisen spricht man von „enthemmter“ Politik der Geldvermehrung. Ende 2019 lag die EZB-Bilanzsumme bei 4,7 Billionen Euro. Zweieinhalb Jahre später hat sie sagenhafte 8,8 Billionen erreicht. Das heißt: Die EZB hat unter Lagarde jeden Monat 137 Milliarden Euro neues Geld geschaffen, an jedem einzelnen Tag waren es 4,6 Milliarden zusätzlich. Ein Börsenhändler in Frankfurt kommentiert: „Die EZB hat vier Billionen Euro neues Geld in den Markt geworfen und wundert sich nun über Inflation“.
Obwohl die Inflation in Europa schon seit Monaten tobte und durch den Ukrainekrieg zusätzlich befeuert wurde, hat die Europäische Zentralbank die Märkte immer noch weiter mit neuem Geld geflutet. Vom Jahresbeginn bis Juni sind 250 Milliarden Euro hinzugekommen. Dabei hat der kriegsbedingte Energiepreisschock die Inflationsprobleme Europas bereits dramatisch verschlimmert.
Die Verantwortung für die größte Geldschöpfung der EU-Geschichte trägt die EZB-Präsidentin Christine Lagarde und ihr Direktorium. Seit Monaten bügelt man dort die Mahnungen und Appelle, das exzessive Gelddrucken endlich zu beenden, brüsk ab. Es handele sich bei der Inflation nur um ein vorübergehendes Phänomen, Sonderfaktoren wie die Pandemie oder Lieferkettenprobleme seien Schuld, es werde sich alles bald normalisieren. Dann hieß es, der Krieg habe die Inflation erst gefährlich werden lassen. Dabei hatte die Inflationsrate schon im Januar vor Kriegsausbruch die höchsten Werte seit Jahrzehnten erreicht.
Auch die deutsche EZB-Direktorin Isabel Schnabel schlug die Inflationswarnungen lange in den Wind. Im Sommer 2021, als die Mahner die EZB immer dringlicher zu einer Kehrtwende anflehten, meinte Schnabel noch: „Viele der Faktoren, die in diesem Jahr zu einem Anstieg der Inflation führen, dürften im Jahr 2022 nachlassen. Da die vorherrschende große Flaute auf dem Arbeitsmarkt nur allmählich zurückgeht, dürfte die mittelfristige Inflation unter dem Ziel des EZB-Rats bleiben.“ Lagarde und Schnabel taten die Kritik an der EZB-Inflationspolitik als Panikmache ab. Nun kehren beide mit markigen Worten um. „In diesem Umfeld müssen die Zentralbanken kraftvoll handeln“, kündigte Schnabel auf der Notenbank-Gipfelkonferenz in Jackson Hole Ende August an: „Je länger die Inflation hoch bleibt, desto größer ist das Risiko, dass die Öffentlichkeit das Vertrauen in unsere Entschlossenheit und Fähigkeit verliert, Kaufkraft zu bewahren“, sagte sie. Die Kosten dafür, sollte sich die derzeit hohen Teuerungsrate in den Köpfen festsetzen, seien unangenehm hoch, warnte sie. Währungshüter müssten daher ihre „starke Entschlossenheit“ zum Ausdruck bringen, die Inflation schnell zur Zielmarke zu bewegen.
Die jetzige Zinserhöhung kommt aus Sicht der meisten Finanzmarktexperten viel zu spät. Die rhetorische Kehrtwende von Lagarde und Schnabel falle zwar laut aus. Doch damit gewinne man die schwer angeschlage Glaubwürdigkeit kaum zurück. Es entstehe der Eindruck, dass die EZB schlingere. Das Medienecho ist jedenfalls verheerend. Lagarde wird weiträumig als „Fehlbesetzung“ und „Madame Inflation“ kritisiert. Die Bildzeitung sieht eine „Bankrotterklärung“, der Spiegel fordert gar eine „Entschuldigung“ der EZB,
Tatsächlich ist nicht nur der Ukraine-Krieg Schuld an der eskalierenden Geldentwertung - die EZB-Politik selbst hat reihenweise Stabilitätsregeln verletzt. Eigentlich war er im Maastrichter Vertrag verboten, dass die EZB-Staatshaushalte mitfinanziert, indem sie gezielt Staatsanleihen von finanzknappen Regierungen kauft. Doch Lagarde hat genau das in exzessiver Weise getan. Unter der Losung ihres Vorgängers Mario Draghi „Whatever it takes“ wurde eine seriöse Geldpolitik über Bord geworfen. Mit dem fadenscheinigen Argument „Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen“ wurde der geldpolitische Notstand zur Dauersituation erklärt. Lagardes fehlender Respekt vor den sparsamen Europäern - vor allem vor den Deutschen - zeigt ein Zitat vom Oktober 2019, als sie die Meinung vertrat, dass es wichtiger sei, einen Job zu haben, als die Ersparnisse zu schützen.
Lagardes Geldschwemme sollte es Frankreich und den südeuropäischen Staaten leicht machen, die hohen Verschuldungen zu refinanzieren und die Pandemiefolgen abzumildern. Sie brachte damit eine gewaltige Umverteilung von Sparern zu den Staaten in Gang, Wirtschaftsforscher nennen den Effekt „Inflationssteuer“.
Erst als die Proteste gegen die EZB-Inflationspolitik immer lauter wurden und die Inflationsraten explodierten, bequemte sich Lagarde im zweiten Quartal 2022 endlich zu einem Kurswechsel - allerdings in Zeitlupentempo. Als die Fed in den USA die geldpolitische Wende früher und entschieden einleitete, spielte Lagarde immer noch auf Zeit.
Ein weiter Kreis von Unternehmen, Banken, Gewerkschaften, Politikern, Verbänden und Wissenschaftlern werfen der Zentralbank seit Monaten Untätigkeit vor. Die Währungshüter hätten monatelang die Inflation selbst befeuert, heißt es bei den Sparkassen.
Die EVP, größte Fraktion im Europaparlament, warnt Lagarde, dass die Bürger das Vertrauen in die Geldpolitik verlören, wenn ihnen durch hohe Inflation „Monat für Monat Geldwert geraubt“ werde. Der Inflationssteuer-Effekt sei politisch explosiv, weil hier ohne demokratische Legitimation Millionen Bürger kalt enteignet würden. Der demonstrative Rücktritt des grundseriösen Bundesbank-Präsidenten und Inflationskritikers Jens Weidmann sei rückblickend ein Fanal gewesen. Nicht wenige in der Finanzindustrie wünschen sich nun Weidmann zurück - am besten auf dem Posten Lagardes.
08.09.2022 | 13:14