Nicht schiffbar heißt: nicht lieferbar
Das Niedrigwasser deutscher Flüsse schwappt ins Portemonnaie der Bürger und belastet die Börse. Das Unverständliche daran: Es ist längst nicht das erste Mal, dass so etwas passiert. Jedes Mal reagierte die Politik mit Ankündigungen, was nun zu tun sei. Doch passiert ist tatsächlich: nichts.
„Erst hatten wir kein Glück – und dann kam noch Pech dazu“, die philosophische Tiefe dieses Satzes aus der Welt des Profifußballs übersteigt mit Sicherheit jene der Fahrrinne eines beliebigen schiffbaren Flusses im Deutschland dieser Tage. Wenige Zentimeter Pegel an Rhein, Main, Donau und Elbe und Weser bedeuten: Binnenschiffer müssen in teils engen Fahrwassern manövrieren, Gegenverkehr ist kaum mehr möglich, der Tiefgang der Frachtschiffe so eng begrenzt, dass eine Beladung zwar nicht das Flussbett, aber die Wirtschaftlichkeitsschwelle touchiert. Was bedeutet, dass bald kein vernünftiges Preis-Leistungsverhältnis mit den Transporten auf den Flüssen. Die Betriebskosten übersteigen den Ertrag, auch wenn die Transporteure höhere Preise verlangen können. In Süddeutschland, wo traditionell große Mengen an Benzin, Öl und Diesel, Chemikalien und Grundstoffe aus dem Norden und dem Westen angelandet werden, steigen die Preise an den Zapfsäulen direkt, und die für den industriellen Output wenig später in überdurchschnittlichen Sprüngen. Umgekehrt wartet man in Köln auf das Salz des Südens. Ob Container- oder Kohletransport, Getreide, Futtermittel oder Baustoffe – deren Ausbleiben belastet die wirtschaftliche Tätigkeit und damit sowohl unmittelbar als auch längerfristig die Konjunktur.
Die Problemlösungen, die kurzfristig möglich erscheinen, verursachen allerdings ihrerseits wieder Kollateralschäden und Nachteile. Da nun wirklich alles mit fast allem vernetzt ist, bedeutet das Umladen auf den Güterverkehr in Rotterdam oder Basel, Aschaffenburg oder Duisburg, nicht nur höhere Kosten und mehr Staus auf den Fernstraßen – nein, es ist auch in Sachen Kapazität kein Vergleich. Ein Binnenschiff transportiert ein Vielfaches einer Lastwagenladung. Und die gerade wegen der Engpässe vom Bundeswirtschaftsministerium veranlasste Bevorzugung des Güterzugverkehrs dürfte die Verspätungen im Personenverkehr der Bahn noch deutlich verschärfen. Wenn denn überhaupt genügend Lkw oder Güterzüge, Lastwagenfahrer und Lokführer, Rangierer und Hafenarbeiter verfügbar wären. Sind sie nämlich nicht. Es hilft zwar nicht auf kurze Sicht, wirft aber ein Schlaglicht auf die Verwundbarkeit des deutschen Transportwesens, wenn der Bundesverband der deutschen Binnenschifffahrt (BdB) nun darauf verweist, wie lange schon die Probleme nicht angegangen werden: So habe die Bundesregierung eingeräumt, dass „dass nahezu sämtliche neue Flussausbauvorhaben, die 2016 von der Regierung im Bundesverkehrswegeplan beschlossen und im Wasserstraßenausbaugesetz aufgenommen wurden, bis heute kaum über ein erstes Planungsstadium hinausgekommen und vom Bau oder gar einer Inbetriebnahme jahrzehntelang entfernt sind“. Diese Flussvertiefungen zum Beispiel, hätten sie denn stattgefunden, würden heute einige Notsituationen gar nicht erst auftreten lassen, so der Verband. Die historischen Niedrigwasserstände aus dem Jahr 2018 hätten da zuletzt als Weckruf gelten können. Sie blieben aber weitgehend folgenlos – die deutsche Bürokratie ist beschleunigungsresistent, klagen die Logistikverbände. Inzwischen sind die Pegelstände von 2018 mancherorts wieder erreicht. Im Fachorgan Täglicher Hafenbericht (THB) wird fest mit Kühlwassermangel bei Kraftwerken gerechnet, so wie dies in Frankreich bereits die Stromproduktion beeinträchtigt. Rheinanlieger, etwa die BASF in Ludwigshafen, warnen vor Produktionskürzungen, die bei anhaltend schlechter Versorgungslage unausweichlich würden. Dort verlässt man sich für die Zukunft auf speziell konstruierte Schiffe mit geringerem Tiefgang – aber bis die in nennenswerter Zahl zur Verfügung stehen, dauert es Jahre. In Betrieb ist derzeit: eines. Auch bei momentan unwahrscheinlich erscheinenden starken und kontinuierlichen Regenfällen würde es länger dauern, die rekordniedrigen Pegelstände am Rhein zu heben. Und über diesen internationalen Wasserweg werden immerhin achtzig Prozent des deutschen Binnenverkehrs auf Wasserstraßen abgewickelt.
So, wie die Dinge liegen, ist ein fast völliger Stillstand der Frachtschiffahrt binnen der nächsten Tage zu erwarten. Damit verbindet sich eine angespannte Lage bei der Gasversorgung, beim Betrieb von an Flüssen gelegenen Kohlekraftwerken und hoher Preissteigerungen für die Verbraucher zu einer absolut ungünstigen Gemengelage. Während das nunmehr hektische Gegensteuern durch die Politik neue Konfliktfelder aufreißt, wie es etwa die derzeitige Diskussion um die neue Gasumlage sichtbar macht. Angesichts der Aussichten rechnen die Chefvolkswirte der führenden deutschen Banken nun mit einer veritablen Rezession in Deutschland, nachdem bislang nur von einer Wachstumsschwäche die Rede war. „Rezession in der Pipeline“ betitelt feinsinnig der Chefvolkswirt der Commerzbank, Jörg Krämer, seine Analyse. 2023 also dürfte es bergab gehen. Das preist auch die Börse mittlerweile ein: Zahlreiche Dax-Unternehmen könnten bald mit sogenannten Gewinnwarnungen um die Ecke kommen – wenn sie intern die Folgen von Engpässen, Preissteigerungen und politischen Versäumnissen in ihre Zahlenwerke integriert haben werden.
In derlei Berechnungen sollte noch ein Phänomen einfließen, das ebenfalls in seinem Ausmaß neu ist: Nach einer Schließung oder Zwangspause im Betrieb geben Unternehmen und Beschäftigte ganz auf, statt nach Ende der Krise neu durchzustarten. Bekannt wurde dies nach dem Ende der meisten einschränkenden Corona-Maßnahmen, als zahlreiche Beschäftigte in wichtigen Wirtschaftszweigen nicht in den Beruf zurückkehrten. Die Geschäftsaufgabe zahlreicher Binnenschiffer etwa könnte das Fluss-Transport-Problem für die Zukunft dann zu einem Dauerzustand werden lassen. Keine schöne Aussicht, nicht einmal für das ohnehin leidende Konkurrenzsystem Lkw-Spedition oder die mit den Verhältnissen kämpfende Güterbahn. Im übertragenen Sinne verursachen einige rutschige Rheinkiesel also eine Art Trockenlawine, ähnlich einem Schneeballsystem – nur halt ohne Wasser.
Reinhard Schlieker
16.08.2022 | 10:13