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Warum Putins Gasspielchen bald Hunderttausende Deutsche in Kurzarbeit schicken könnten

Immer weniges Gas fließt nach Deutschland. Das hat dramatische Folgen für die Industrie. Einzelne Werke werden runtergefahren. Chemie-, Metallbau- und Glasverarbeiter kämpfen um ihre Existenz. Die Bundesagentur für Arbeit rechnet mit Kurzarbeit und deutlich steigenden Arbeitslosenzahlen.
 
Die Energieversorgung in Deutschland hat sich über das Wochenende erneut verschärft, weil der russische Staatskonzern Gazprom weniger Gas als vereinbart durch die Leitungen Richtung Westeuropa pumpt. Durch die Pipeline Nord Stream I fließen nur noch 40 Prozent der möglichen Menge. Die Bundesnetzagentur, die für die Energieversorgung zuständig ist, spricht in ihrer mittlerweile täglich aktualisierte Mitteilung von einer „angespannten Lage“. Noch sei die Versorgungssicherheit gewährleistet und die Unternehmen in Deutschland könnten sich Gasmengen, die sie brauchen, beschaffen - allerdings zu extrem hohen Preisen. Ein teilweiser Blackout der Industrie durch das Abstellen ganzer Werke rückt damit näher. Die unmittelbaren Folgen wären für hunderttausende Menschen in Deutschland Kurzarbeit und damit sinkende Einkommen, verbunden mit einer unsicheren Perspektive, wann sich die Situation wieder entspannt.

Auf diese kritische Phase hat der Chef der Bundesagentur für Arbeit Detlef Scheele die Menschen bereits eingestimmt: Sollte kein Gas aus Russland mehr nach Deutschland fließen, würde die Arbeitslosigkeit stark steigen. Besonders ein Einbrechen der chemischen Industrie beunruhigt Scheele. Wenn, wie es jetzt geschieht, die Gasversorgung unter ein gewisses Niveau fällt, müssten Chemiekonzerne ihre Anlagen herunterfahren, um sie vor Schäden zu bewahren. Bei manchen Branchen, etwa der Glasindustrie, sei das nicht möglich. Hier könnten im schlimmsten Fall Anlagen in Millionenhöhe zerstört werden. Zudem, so warnte Scheele bereits im April, würden viele andere Branchen die Konsequenzen spüren. Wenn etwa ein Chemiekonzern wie BASF nicht produzieren könne, fehlten Grundstoffe für die pharmazeutische Industrie und auch beispielsweise für Farben und Lacke. „Das ist anders, als wenn im Gastgewerbe eine Gaststätte schließt. Das kann eine Kettenreaktion auslösen, die man mit Kurzarbeit alleine nicht auffangen kann", warnte Scheele.

Die Konzerne bereiten sich darauf vor. BASF-Vorstandschef Martin Brudermüller warnt öffentlich: Der Ausfall russischer Energielieferungen „könnte die deutsche Volkswirtschaft in ihre schwerste Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs bringen.“ Allein die Chemieindustrie verbraucht jährlich mehr als 136 Terawattstunden Energie in Form von Gas. Dreiviertel davon wird fürs Befeuern der Anlagen verwendet, ist also auch so schnell nicht zu ersetzen. Der Rest wird als Rohstoff für die Produkte selbst gebraucht. Gesamtmetall-Chef Stefan Wolf fordert von der Bundesregierung weitere Regeln zur Kurzarbeit.

Das Schreckensszenario, das die Konzernbosse derzeit in Krisenstäben mit Großkunden und Regierungsvertretern durchspielen, sieht so aus: Wenn die deutsche Chemie- und auch die Metallindustrie wegen Gasmangels stillsteht, werden die Kunden nach anderen Lieferanten außerhalb Deutschlands suchen, die noch lieferfähig sind. Sie kommen womöglich auch dann nicht zurück, wenn die Fabriken hierzulande wieder anlaufen. Der Einzelhandel hat genau diese Situation im Corona-Lockdown erlebt und Kunden dauerhaft an Amazon und Co. verloren. In den Krisengesprächen werden derzeit „Kriterien aufgestellt, nach denen Industrieunternehmen im Notfall abgestellt werden“, berichtet Leonhard Birnbaum, Chef des Energieversorgers Eon aus Essen.

Einige Unternehmen, wie etwa der Stahlverarbeiter Arcelor Mittal, haben Anlagen mit hohem Gasverbrauch aus wirtschaftlichen Gründen bereits außer Betrieb genommen: Im Fall des Stahlkochers wird laut einem Bericht des Handelsblatts der Eisenschwamm, der normalerweise am Standort in Hamburg aus Eisenerz unter Zufuhr von Erdgas gewonnen wird, nun aus dem Ausland importiert. So bleibt die Produktion grundsätzlich aufrechterhalten – auch wenn ein Teil aus Deutschland verschwindet. Im riesigen BASF-Verbundstandort Ludwigshafen ist die Ammoniakproduktion die Einzelanlage mit dem größten Erdgasbedarf. Ammoniak wird vor allem für Dünger, aber auch als Vorprodukt für die Weiterverarbeitung gebraucht. BASF prüft, ob die benötigten Ammoniakmengen von anderen Standorten zugeliefert werden können. Der Rohstoff ist wichtig, um damit beispielsweise Adblue herzustellen, das für die Reinigung von Dieselabgasen in Fahrzeugen benötigt wird.

Kleinere Firmen haben die Option, auf ausländische Standorte auszuweichen, nicht: Sie sind fest mit den umliegenden Regionen verwachsen, oft der größte Arbeitgeber am Ort. Für sie bedeutet ein Gaslieferstopp das Aus für den ganzen Betrieb. Markus Schramek ist Chef der BEW-Umformtechnik, 200 Mitarbeiter bauen im baden-württembergischen Örtchen Rosengarten unter anderem Achsen für Landmaschinen. Seine Sorge: Deutschland könnte auf dem Weltmarkt nicht mehr konkurrenzfähig sein, weil China und Indien weiterhin günstiges Gas und billigen Strom beziehen. „Es könnte dann eine der größten Krisen drohen, die die deutsche Wirtschaft vielleicht jemals erlebt hatte." Dann hieße es nicht nur für BEW-Umformtechnik Produktions-Stopp mit der Folge von hoher Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit in ganz Deutschland.

Henrik Follmann leitet den gleichnamigen Chemiehersteller in Ostwestfalen. Druckfarben und Klebstoffe kommen von Follmann.  Er sagte dem Handelsblatt: „Wenn das Gas nicht kommt, stehen unsere Anlagen still.“ Natürlich könne man auf die Idee kommen, vorzuproduzieren und die Lager zu füllen. Aber nach zwei Jahren Pandemie seien die Lieferketten extrem angespannt. „Was Vorprodukte angeht, leben wir praktisch von der Hand in den Mund“, sagt Follmann. Die Transportkosten hätten sich verzehnfacht. „Wir gehen nicht ausgeruht und fit in die nächste Krise, sondern sind am Limit.“

Die besonders energieintensive deutsche Glasindustrie sieht ebenfalls wenig Möglichkeiten schnell auf russisches Gas zu verzichten. Mittelständler wie Heinz-Glas aus Oberfranken müssen ihre Glas-Schmelzanlagen ständig heiß halten, denn sonst droht das Material zu verklumpen und die Anlagen zu zerstören. Das Unternehmen will auf andere Energieformen umstellen, doch die neuen Anlagen sind nicht vorEnde 2023 montiert. Bis dahin muss das Gas jeden Tag und jede Stunde fließen. Ansonsten können die Mitarbeiter nach Hause gehen – und brauchen wahrscheinlich nicht mehr wiederzukommen.

Nur ein Drittel der Gaslieferungen Russlands nach Deutschland ist kurzfristig mit Flüssiggas aus anderen Teilen der Welt ersetzbar. „Wir sind noch mindestens zwei Jahre auf russisches Gas angewiesen“, schätzt daher Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft. Es sei, meint er, eine Illusion, dass der Staat für so lange Zeit mit Rettungsmilliarden und Kurzarbeit ganze Branchen stützen kann. Um die Folgen eines Gaslieferausfalls ist ein Streit unter Ökonomen entbrannt. Das Problem: Die Modelle der Wissenschaftler bilden die komplizierten Warenströme der Wirtschaft nur unzureichend ab. So ist ohne die Chemieindustrie keine komplexere Kunststoffproduktion denkbar, die zum Beispiel wichtige Teile für die Windkraftindustrie liefert, die wiederum der wichtigste Baustein des grünen Umbaus Deutschlands ist.

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck ist deswegen im Alarmmodus und hat am Wochenende weitere Maßnahmen angekündigt. So soll der Einsatz von Gas für die Stromerzeugung und Industrie gesenkt und die Befüllung der Speicher vorangetrieben werden. Außerdem sollen – für einen grünen Wirtschaftsminister eine bittere Entscheidung- mehr Kohlekraftwerke zum Einsatz kommen. „Der Gasverbrauch muss weiter sinken, dafür muss mehr Gas in die Speicher, heißt es in einem Strategiepaier aus dem Wirtschaftsministerium. Konkret geht es um folgende Pläne: Um die Einspeicherung von Gas zu sichern, stellt die Bundesregierung schon in Kürze eine zusätzliche Kreditlinie über die Staatsbank KfW in Höhe von 15 Milliarden Euro zur Verfügung. Damit soll Trading Hub Europe die nötige Liquidität bekommen, um Gas einzukaufen und die Befüllung der Speicher voranzutreiben. Der Kredit werde über eine Garantie des Bundes abgesichert. Die Gesellschaft Trading Hub Europe ist durch eine Kooperation von Netzgesellschaften entstanden. Habeck will außerdem ein Gasauktionsmodell einführen. Dieses soll industriellen Gasverbrauchern Anreize bieten, Gas einzusparen. Im Kern geht es darum, dass Industriekunden, die auf Gas verzichten können, dafür finanziell belohnt werden.
 
Oliver Stock

20.06.2022 | 10:15

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