Steigende Beiträge zur Sozialversicherung fressen Entlastungen auf
Die Regierung feiert ihr drittes Entlastungspaket. Worüber sie lieber nicht spricht: Die Entlastungen werden durch steigende Beiträge zu Renten-, Arbeitslosen,- und Krankenversicherung zu einem Großteil zunichte gemacht.
Eigenlob klingt so: „Die Bundesregierung hat angesichts der stark steigenden Preise mit drei Entlastungspaketen im Jahr 2022 umfassende Maßnahmen auf den Weg gebracht. Das dritte Entlastungspaket im Volumen von rund 65 Milliarden Euro wird sehr zügig umgesetzt. Es soll kleine Einkommen, die arbeitende Mitte als auch Unternehmen entlasten.“ So wirbt Christian Lindners Bundesfinanzministerium für das, was der Minister gemeinsam mit seinen Kabinettskollegen als Entlastung in der Krise auf den Weg gebracht hat.
Die Wirklichkeit sieht wie immer deutlich gemischter aus. Es gibt eine Entlastung, aber es kommt auch eine deutliche Belastung auf die Bürgerinnen und Bürger zu. Und zwar nicht eine, die äußeren Umständen wie einer Energiekrise und der zügigen Geldentwertung geschuldet ist, sondern eine, die Lindner (FDP) und seine Kabinettskollegen - allen voran Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) - selbst beschlossen haben, aber derzeit lieber nicht weiter erwähnen: Vom nächsten Jahr an, so will es die Regierung, steigen nämlich die Beiträge zu den Sozialversicherungen. Wer ordentlich verdient, kann mit 600 Euro und mehr rechnen, die er für Arbeitslosen-, Renten- und gesetzlicher Krankenversicherung zusätzlich aufbringen muss. Ein Teil der Entlastung wird damit durch neue Belastungen wieder wettgemacht.
Zu diesem Ergebnis kommt der Finanzwissenschaftler Frank Hechtner von der Universität Nürnberg-Erlangen, der für das Handelsblatt Be- und Entlastungen für verschiedene Einkommen berechnet hat. „Ein nicht unwesentlicher Teil der beabsichtigten Entlastungen wird durch die Erhöhung der Sozialbeiträge wieder aufgefressen“, sagt er.
Beschlossene Sache ist, dass der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung von derzeit 2,4 um 0,2 Prozentpunkte auf 2,6 Prozent steigt. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat zudem angekündigt, dass der durchschnittliche Zusatzbeitrag in der gesetzlichen Krankenversicherung im kommenden Jahr um 0,3 Prozentpunkte angehoben werden soll. Für Besserverdiener ist darüber hinaus wichtig, auf welchen Teil ihres Einkommens sie Sozialversicherungsbeiträge zahlen müssen. Die sogenannten Beitragsbemessungsgrenzen waren in der Coronazeit annähernd stabil geblieben. Jetzt jedoch will das Bundesarbeitsministerium die Grenzwerte kräftig anheben, wie aus dem Entwurf für eine Verordnung hervorgeht, den das Bundesarbeitsministerium in der vergangenen Woche veröffentlicht hat. So werden in der Renten- und der Arbeitslosenversicherung im kommenden Jahr in Westdeutschland auf bis zu 7300 Euro monatliches Bruttoeinkommen Beiträge fällig, aktuell liegt die Grenze bei 7050 Euro. Im Osten steigt sie von 6750 auf 7100 Euro. Für die Kranken- und Pflegeversicherung steigt die Beitragsbemessungsgrenze zu Jahresbeginn bundeseinheitlich von 4837,50 Euro auf 4987,50 Euro.
Unterm Strich steigen damit die Lohnnebenkosten und überschreiten erstmals seit 2012 wieder die Schwelle von 40 Prozent, was eigentlich laut insbesondere aus Sicht der FDP einen Tabubruch darstellt. Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger hat das bereits auf den Plan gerufen: „Wir brauchen ein Belastungsmoratorium für die Betriebe. Die Lohnnebenkosten müssen auf 40 Prozent gedeckelt werden“, forderte er im Juli. Beitragserhöhungen seien „das Schlechteste, was wir im Moment tun können“, argumentierte der Arbeitgeberpräsident. „Sie belasten nicht nur die Betriebe, sondern auch die Beschäftigten. Es muss jetzt in dieser schwierigen Situation mehr Netto vom Brutto in den Lohntüten bleiben. Die guten Steuereinnahmen des Bundes geben das her.“ In die gleiche Kerbe schlägt auch Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer: „Wir warnen die Bundesregierung eindringlich davor, die 40-Prozent-Grenze bei den Sozialbeiträgen zu überschreiten", sagt er. Die Ampel-Parteien müssten sich endlich an die „unumgänglichen grundsätzlichen Reformen unserer sozialen Sicherungssysteme“ machen. Dulger und Wollseifer stießen mit dieser Forderung jedoch offenbar auf taube Ohren, wie der Verordnungsentwurf aus dem Hause von Hubertus Heil jetzt offenbart.
Finanzwissenschaftler Hechtner hat ausgerechnet, was das für die Beschäftigten bedeutet. Danach sieht es so aus: Ein Single mit einem Monatseinkommen von 4000 Euro wird 2023 120 Euro mehr im Jahr an Sozialversicherungsbeiträgen zahlen. Wer 7500 Euro verdient, muss schon 669 Euro zusätzlich berappen. Vom Entlastungspaket bleibe damit deutlich weniger übrig, als es die Ampelkoalition derzeit glaubhaft machen will, stellt Hechtner fest.
Die steigenden Lohnnebenkosten sind ein Problem, auf das Wissenschaftler seit Jahren hinweisen. So hat die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände bereits vor zweieinhalb Jahren eine Kommission eingesetzt, die den Namen trägt: „Zukunft der Sozialversicherung: Dauerhafte Begrenzung der Beitragsbelastung“. Der Bericht zeigt auf, dass die ohnehin schon hohe Belastung von Löhnen und Gehältern deutlich steigen wird. Auf der Basis des derzeit geltenden Rechts sei ein Beitragssatzanstieg auf rund 50 Prozent bis 2040 zu erwarten. Als Gegenmittel empfiehlt die Kommission längere Lebensarbeitszeiten, die die Erhöhung dämpfen würden.
Oliver Stock
19.09.2022 | 15:30