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Warum die Abschläge für Frührentner viel zu niedrig sind

Olaf Scholz plädiert dafür, dass das reale Renteneintrittsalter steigt – und wird dafür gelobt. Doch genau zu diesem Zeitpunkt setzt der Staat neue Anreize für die Frühverrentung. Warum und wer dafür zahlen muss.

Man stelle sich vor, wir Bürger wären alle wie selbstfahrende Autos: Einmal programmiert düsen wir zuverlässig in die richtige Richtung. Und wenn sich Rahmenbedingungen ändern, nun ja, dann schreibt man den Code halt etwas um. Und manchmal funktioniert das mit uns Bürgern sogar: Man setzt passende Anreize, und wir laufen in die richtige Richtung. Kompliziert wird es nur, wenn die Politik das eine sagt, aber das andere tut: Wenn Programmierung und Ziel nicht zusammenpassen, verweigern wir den Dienst.
 
So in etwa läuft das gerade bei der Rente. Da sagt Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), dass man den Anteil der Menschen steigern müsste, „die wirklich bis zum Renteneintrittsalter arbeiten können“. Ökonomen klatschen, Unternehmer jubeln – denn die Zahlen sind eindeutig: 2022 sind knapp 60 Prozent der Ruheständler, die zum ersten Mal eine Altersrente bezogen haben, vorzeitig aus dem Arbeitsleben ausgeschieden. Das gesetzliche Renteneintrittsalter steigt bis 2031 auf 67 Jahre und liegt derzeit bei 65 Jahren und elf Monaten. Aber das reale Renteneintrittsalter beträgt 64,1 Jahre. Die Zahlen sind in doppelter Hinsicht dramatisch: Erstens fehlen diese Menschen dem Arbeitsmarkt – hier sind derzeit 1,8 Millionen Stellen ausgeschrieben, die nicht besetzt werden können. Und zweitens ächzt die Rentenkasse unter der finanziellen Belastung.
 
Nun nehmen wir Menschen ja durchaus gern Vorteile wahr, solange die Nachteile hinnehmbar sind. Und das heißt für die Rentenkasse: Viele hören gern eher auf zu arbeiten, wenn sie mit den finanziellen Einbußen leben können. Die sogenannte Rente mit 63 ist ein Weg und nutzte bisher vor allem den vor 1953 Geborenen: Wer mindestens 45 Beitragsjahren vorweisen konnte, durfte seit 2014 früher und ohne Abschläge in den Ruhestand. Die Altersgrenze wird schrittweise angehoben. Der Staat hatte mit 200.000 Menschen kalkuliert, die das pro Jahr machen. Im vergangenen Jahr waren es nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung Bund (DRV) mehr als eine Viertelmillion. Die Menschen nähmen halt „die Möglichkeiten wahr, die sie qua Gesetz haben", sagte DRV-Präsidentin Gundula Roßbach.

Ein anderer Weg ist, früher aus dem Berufsleben auszusteigen und Abschläge in Kauf zu nehmen. Fast jeder Vierte, der im vergangenen Jahr in Rente ging, hat das gemacht. Durchschnittlich nahmen die Menschen dafür Einbußen von 110 Euro in Kauf – Monat für Monat bis zum Lebensende. Das System funktioniert so: Für jeden Monat, den ein Arbeitnehmer vor der gesetzlichen Regelaltersgrenze aufhört zu arbeiten, wird die monatliche Rente um 0,3 Prozent gekürzt: macht für ein Jahr 3,6 Prozent Abschlag, bei zwei Jahren 7,2 Prozent und bei drei Jahren 10,8 Prozent. Das klingt nach viel, aber das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat nun ausgerechnet, dass die Abschläge noch zu niedrig kalkuliert sind, was bedeutet: Diejenigen, die bis zum gesetzlichem Renteneintrittsalster schuften, zahlen mit für die, die früher in Rente gehen.

Eine Erkenntnis mit enormer Sprengkraft und Jochen Pimpertz berechnet das wie folgt: Der IW-Ökonom vergleicht, wie viel Geld ein Ruheständler bis zum Tod beim vorgezogenen und – theoretisch – beim regulären Renteneintritt bekommt. Entscheidend ist dabei die Lebenserwartung. Am Ende kommt Folgendes heraus: Wenn ein Mann ein Jahr vor dem gesetzlichen Rentenalter in den Ruhestand geht, müsste er eigentlich einen Abschlag von 4,6 Prozent zahlen – und nicht 3,6 Prozent wie derzeit vorgesehen. Nur dann würde die Rentenkasse durch den Vorruhestand nicht zusätzlich belastet. Da Frauen länger leben, ist der Unterschied bei ihnen nicht ganz so gravierend. Heißt im Umkehrschluss: Die Regierung könnte die Abschläge erhöhen, das System stabilisieren und würde dabei sogar noch für Gerechtigkeit sorgen.

Allerdings passiert seit dem 1. Januar 2023 genau das Gegenteil: Sie setzt weitere Anreize für die Frühverrentung. Denn seitdem dürfen die Arbeitnehmer, die vor der gesetzlichen Renteneintrittsgrenze in den Ruhestand gehen, unbegrenzt hinzuverdienen. Bisher konnten das nur die, die zum Regeldatum in Rente gingen. Gedacht war diese in der Anfangszeit der Coronaphase gemachte Regelung, um angesichts des Fachkräftemangels und der sogenannten Arbeiterlosigkeit Menschen zu motivieren, mehr zu arbeiten. Jetzt wirkt sie mit hoher Wahrscheinlichkeit genau gegenteilig. Welch Ironie: Eigentlich sollten Frührentner mehr arbeiten, jetzt machen mehr Arbeiter Frührente. Das Verhalten der Menschen ist eben schwer zu programmieren, wenn man Dinge nicht zu Ende denkt.

Für den einzelnen hat die neue Regelung einige Vorteile, denn es dürfte sich für viele finanziell lohnen, früher in Rente zu gehen und mehr dazuzuverdienen. Schließlich fiel die größte Hürde: die Furcht, dass wegen einer Nebentätigkeit die Rente gekürzt wird. Mal abgesehen von der Flexibilität, die potenzielle Frührentner nun hätten, ist es psychologisch für viele attraktiv, ganz allmählich und selbstbestimmt vom Erwerbsleben in den Rentnermodus überzugehen. Finanziell ist vorteilhaft, dass die, die durch Rente und Gehalt mehr als 4987,50 Euro im Monat verdienen, über der Beitrags¬be¬mes¬sungs¬gren¬ze der gesetz¬li¬chen Kranken- und Pflege¬ver¬si¬che-rung liegen. Jeder Extra-Euro ist frei von Abgaben. Zu bedenken ist, dass Rentner keinen Anspruch auf Arbeits-lo¬sen- und Kranken¬geld haben, was sich bei einer Langzeit¬er¬kran¬kung erheblich auswirken könnte. Die Lösung dafür könnte sein, sich nur eine Teilren¬te von zum Beispiel 90 Prozent auszah¬len zu lassen: So bleibt die sozia¬le Absiche¬rung erhal¬ten, und dass Minus bei der Rente ist überschaubar. Nicht zu ändern ist der oben erwähnte Abschlag und der Aufwand für eine Steuer¬erklä¬rung, die weiter abgegeben werden muss.

Ob sich Frührente plus Hinzuverdienst auszahlt, ist eine recht komplexe Rechnung mit vor allem einer großen Unbekannten: wie lange man lebt. Wer zum Beispiel den Spitzen¬steu¬er¬satz von 42 Prozent berappen muss, ist mit der Frührenten-Kombi bis zum 80. Lebensjahr bessergestellt. Danach überstei¬gen die Verlus¬te der Renten-kür¬zung die anfäng¬li¬chen Mehrein¬nah¬men aus der Arbeit. Bei gerin¬ge¬ren Einkünf¬ten und damit niedri¬ge¬rem Steuer¬satz steigt das Alter, ab dem Verlus¬te entste¬hen. Und man weiß nicht, ob und wie stark die Rentenhöhe steigt.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es eine wachsende Gruppe von Unruheständlern gibt: Inzwischen sind 1,1 Millionen abhängig Beschäftigte 67 Jahre oder älter - 200.000 mehr als im Jahr 2015. Finanzielle Gründe sind laut einer Befragung des Insti¬tuts für Arbeits¬markt- und Berufs¬for¬schung (IAB) nur für 43 Prozent wesentlich. Für 97 Prozent ist es der „Spaß an der Arbeit“, 92 Prozent wollen „weiter eine Aufga¬be haben“ und 91 Prozent „Kontakt zu anderen Menschen“. Die durch¬schnitt¬li¬che Arbeits¬zeit von Rentnern zwischen 65 und 74 Jahren beträgt nach Angaben des IAB 14,5 Stunden in der Woche. Also auch wenn es sich zumeist um Mini-Jobs handelt: Diese Zahl ist Wasser auf Mühlen derjenigen, die auch eine Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters Richtung 70 Jahre fordern – zumindest in den Berufen, wo die körperliche Belastung dies zulässt. Doch das wird mit dieser Regierung nicht zu machen sein, sagen praktisch alle politischen Beobachter. Vielleicht würden sich die Bürger schon freuen, wenn Worte und Taten zusammenpassen würden. Dann lassen sich die Handlungen der Menschen auch leichter vorausberechnen.

Thorsten Giersch

03.01.2023 | 09:43

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