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Es kommt, es kommt nicht, es kommt: Zehn Antworten, wie es mit und ohne Gas in Deutschland weitergeht

Russland spielt am Gashahn und in Deutschland machen sich Verbraucher und Industrie sorgen, wie sie durch den Winter kommen sollen. Wir stellen die zehn wichtigsten Fragen zur Gasversorgung und geben Antworten. Ergebnis: Strom wird es weiter geben, aber wenn die aktuelle Hitzewelle vorbei ist, könnte es ungemütlich werden.

1)    Fließt wieder Gas?

Ja. Nach dem Ende einer Wartung, die von allen Seiten als Routine beschrieben wurde, angesichts des Krieges und der Bedeutung der Gaslieferungen aber alles andere als Routine war, fließt das Gas wieder. Allerdings lief die Pipeline schon vor der Wartung nur mit 40 Prozent ihrer technisch machbaren Kapazität, was in Deutschland dazu führte, dass die Alarmstufe des Gaskrisenplans in Kraft getreten ist. Seit heute kommen nur noch 30 Prozent über die wieder hochgefahrene Nord Stream Pipeline an. Aktuell bekommt ganz Europa, das im vergangenen Jahr noch 40 Prozent seines Bedarfs mit Erdgas aus Russland deckte, darüber hinaus noch geringe Mengen über die Ukraine-Route und Leitungen in der Türkei.

2)    Was ist mir der Turbine?

Der russische Staatskonzern Gazprom hatte die Drosselung der Lieferungen durch Nord Stream 1 bereits im vergangenen Monat damit begründet, dass eine Turbine des deutschen Energietechnikkonzerns Siemens Energy repariert werden müsste. Siemens Energy bestätigte die Reparatur, seither wird von allen Seiten getrickst: Die Turbine sei in Kanada gewartet worden, und konnte angeblich wegen der Sanktionen nicht zurückgebracht werden, heißt es von Siemens Energy. Dann allerdings ging es plötzlich doch. Aber auch der Rückweg der Turbine, für den ein Transportflugzeug circa acht Stunden braucht, zieht sich jetzt offenbar hin. Gazprom schreibt auf dem Social Media-Kanal Telegramm, dass Dokumente für die Turbine fehlten, was sich auch nicht erschließt, schließlich geht es ja nur um den Wiedereinbau des gewarteten Teils. Experten rätseln darüber, wie eine einzelne Turbine eine ganze Pipeline lahmlegen kann. Deutlich wird, dass hier keine Seite mit offenen Karten spielt.

3)    Was ist mit Nord Stream 2?

Der russische Machthaber Wladimir Putin hat aktuell darauf verweisen, dass mit Nord Stream 2 eine bereits mit Gas gefüllte funktionsfähige Pipeline zur Verfügung steht: „Wir haben noch eine fertige Trasse. Die können wir in Betrieb nehmen“, sagte er. Doch die schon vorher umstrittene Inbetriebnahme der zweiten Ostseepipeline wurde nach dem russischen Angriff auf die Ukraine als eines der ersten Sanktionsmittel ausgesetzt. Es ist politisch absolut unwahrscheinlich, dass die Regierung in Berlin von diesem weltweit beachteten Beschluss abrückt. Sie hätte erheblichen Streit mit ihren Verbündeten insbesondere in Polen und den USA zu befürchten.

4)    Wie sicher ist Russland jetzt als Lieferant?

Absolut unsicher. Je nach Laune kann die russische Führung entscheiden, die Gaslieferungen zu stoppen und damit Länder wie Deutschland, die den Kriegsgegner Ukraine unterstützen, erheblich zu treffen. Einziger Nachteil aus russischer Sicht wären ausbleibende Zahlungen der Abnehmerländer im Westen. Das Regime braucht das Geld, um seinen Krieg zu finanzieren und ist durch die Sanktionen wirtschaftlich unter Druck geraten. Auf der anderen Seite kommt der russische Staat auf seine Kosten, weil die Gaspreise gestiegen sind, und die Absatzkanäle Richtung Türkei und Indien weiter gut funktionieren.

5)    Wie sicher ist die Stromversorgung in Deutschland?

Sicher. Die Stromnetze werden derzeit durch Kohlekraftwerke stabilisiert, die zusätzlich hochgefahren worden sind. Die erneuerbaren Energien liefern 40 bis 50 Prozent des Strombedarfs, Strom kann importiert werden und die noch verbliebenen Atomkraftwerke laufen zumindest bis Jahresende. Eine Verlängerung wird diskutiert. Gas trägt nur einen kleinen Teil zur Stromerzeugung bei, so dass der Schaden durch ausbleibendes Gas hier gering ist.

6)    Wie sicher ist die Energieversorgung?

Überhaupt nicht sicher. Erneuerbare Energien machen bislang nur 17 Prozent des gesamten Energieverbrauchs in Deutschland aus. Der Rest kommt aus fossilen Brennstoffen – und hier ist Gas entscheidend. Es wird zur Hitzeerzeugung in der Industrie und in vielen privaten Haushalten benutzt. Eine Umstellung dauert Jahre. Wasserstoff, der die gleichen Netze verwenden könnte, steht nicht zur Verfügung. Flüssiggas aus den USA und den arabischen Staaten könnte helfen, wird aber auch in den nächsten Monaten noch nicht in ausreichender Menge in Deutschland ankommen. Die Gasspeicher in Deutschland sind mäßig gefüllt, in diesen Tagen, in denen gar kein Gas aus Russland kommt, fließt aus ihnen etwa so viel ab, wie neu eingespeichert wird. Sowie es kälter wird, steigt der Gasverbrauch auf das Drei- bis Vierfache. Dann wird es knapp.

7)    Was bedeutet das für die Haushalte?

Sie werden von ihrem Gasversorger, der selbst in Not ist, saftige Rechnungen bekommen. Eine vierköpfige Familie kann mit bis zu 4000 Euro Nachzahlungen für den Gasverbrauch rechnen. Schon um den Geldbeutel zu schonen, werden die Menschen Gas sparen und auf andere Heizungssysteme umsteigen, die jedoch wegen der großen Nachfrage derzeit schwer zu bekommen sind. Privathaushalte sollen bis zuletzt mit Gas beliefert werden, so sehen es die Energiegesetze vor. Die Industrie verlangt allerdings eine gerechtere Verteilung der Lasten, wenn das Gas knapp wird. Das könnte bedeuten, dass das Gas für private Verbraucher am Ende doch rationiert wird.

8)    Was bedeutet das für die Industrie?

Gas dient als Energielieferant zur Herstellung vieler Produkten, denen man es gar nicht ansieht: vom Düngemittel bis zur Wasserflasche. Das meiste Gas verbraucht die Chemieindustrie, die damit Grundstoffe für andere Branche herstellt, so dass bei einem Ausfall der Gaslieferungen die Produktion unterschiedlichster Betriebe schnell lahmgelegt werden dürfte. Die Folgen können Pleiten, Kurzarbeit und ein wirtschaftlicher Niedergang sein, wie es ihn bisher in der Geschichte der Bundesrepublik nicht gegeben hat.

9)    Wie urteilt die Börse?

Anleger sind pessimistisch. Die Börse strauchelt seit Monaten. Zur Energieknappheit kommen noch die hohe Inflation, Lieferschwierigkeiten und Arbeitskräftemangel – alles Situationen, die als Folge der Corona-Pandemie an den Märkten eine Rolle spielen. Energieintensive Unternehmen stehen besonders unter Druck. Die Aktie des Chemieriesen BASF ist beispielsweise in den vergangenen sechs Monaten um ein Drittel eingebrochen. Die Börse in Frankfurt reagiert extrem sensibel: Als jetzt wieder das erste Gas nach der Wartung durch die Pipeline floss, machten die Kurse einen Sprung nach oben. Als Gazprom die Erwartungen dämpfte, fielen sie prompt.

10)    Wie geht es weiter mit der Energiewende?

Die Energiewende, die Deutschland seit 20 Jahren propagiert, ist gescheitert, weil sie zu einer extrem hohen Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas geführt hat. Andere Länder in Westeuropa stehen deutlich stabiler dar. Dennoch erhalten die Bemühungen um eine stärkere Nutzung erneuerbarer Energien einen zusätzlichen Schub, weil klar geworden ist, dass für Deutschland mit seinen begrenzten Rohstoffen nicht nur wegen des Klimawandels, sondern auch aus ökonomischen und geopolitischen Gründen kein anderer Weg besteht.

Oliver Stock

21.07.2022 | 09:10

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