Wilder Haufen: Projekt-Gründer Jan Schierhorn (vorne links) und Geschäftsführerin Nancy Menk (vorne rechts) zusammen mit dem Team (Foto: Das Geld hängt an den Bäumen).



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Das Geld hängt an den Bäumen

Deutschlands sozialster Saftladen holt jene zur Ernte, die sonst schwer einen Arbeitsplatz finden würden. Damit hat das Projekt  „Das Geld hängt an den Bäumen“ aus dem Raum Hamburg inzwischen Fans bei Gastronomie, Handel und Privatkunden gefunden.

Sie ernten mit vergessenen Menschen vergessene Ressourcen: Jan Schierhorn und Nancy Menk pflücken mit ihrem Team ungenutzte Äpfel und Birnen von den Bäumen im Großraum Hamburg, um daraus Säfte und Schorlen herzustellen. Doch ihre Initiative „Das Geld hängt auf den Bäumen“ ist mehr als nur ein Ernteprojekt. Die Menschen, die hier arbeiten, heißen Olaf, Samuel oder Simon, und sie haben auf dem ersten Arbeitsmarkt kaum eine Chance – wegen einer Behinderung oder anderen Beeinträchtigung. Hier aber haben sie einen sozialversicherungspflichtigen Job gefunden. Ihre Arbeit trägt allerdings auch anderweitig Früchte: Die Produkte der gemeinnützigen GmbH haben in den vergangenen Jahren Fans bei Gastronomie, Handel und Privatkunden in der Region gefunden.

Wenn man Schierhorns romantische Seite kennenlernen möchte, dann sollte man ihn zu den Anfängen seiner sozialen Initiative befragen. Davon erzählt der 53-Jährige nicht oft, aber sehr gerne. Dann schwärmt er von seinem Lieblingsplatz im Hamburger Stadtteil Groß Borstel, mit dem alles anfing. Damals hatte er mit seiner Frau und den Kindern ein Haus mit Garten bezogen. In jenem Garten stand eine Bank unter einem Apfelbaum, der erstaunlich viele Früchte getragen hat. Zu viele, um das Obst komplett selbst zu nutzen. Der Hamburger merkte, dass seine Nachbarn ähnliche Probleme hatten und hörte sich auch anderweitig in der Großstadt um. So kam ihm die Idee, die biologische Ressource Apfel und die humane Ressource Mensch zu verbinden. 2007 startete der Marketing- und Kommunikations-Fachmann, der eine eigene Agentur besitzt, mit der Apfelernte in Privatgärten. Die Helfer kamen von einer örtlichen Behindertenwerkstätte, weitere Firmen unterstützten seine Initiative. „Das Geld hängt an den Bäumen“ finanzierte sich anfangs aus privaten Mitteln und einem Preisgeld der Körber-Stiftung von 10.000 Euro. Zunächst bestand nur saisonaler Arbeitsbedarf. „Wir wollten aber nicht nur temporär für das Projekt arbeiten, sondern einen vollwertigen Kreislauf mit festem Arbeitsplatz“, erklärt Schierhorn, der ehrenamtlich tätig ist.

So entwickelte sich „Das Geld hängt an den Bäumen“ im Laufe der Zeit zu einem vollwertigen Unternehmen. Rund 20 Personen zählt das Team heute. „45 Prozent der Belegschaft haben einen anerkannten Schwerbehindertenstatus“, erklärt Geschäftsführerin Nancy Menk. Die übrigen haben laut der 33-Jährigen Defizite oder Minderleistungen. „Es sind Menschen, die in Werkstätten unterfordert sind oder sich dort gar nicht bewerben.“ Menk möchte sinnvolle Arbeitsplätze für Menschen bieten, die es im Leben nicht so leicht haben, und zwar auf dem ersten, also dem regulären Arbeitsmarkt. „Es geht darum, sein Gehalt selbst zu kapitalisieren“, erklärt Menk. Eine wichtige Finanzierungssäule der GmbH sind neben den Erlösen aus den Produktverkäufen die Spenden – einen Träger oder feste Investoren gibt es nicht. Neben der Stadt Hamburg unterstützen Unternehmen, Organisationen und Privatpersonen das regionale, soziale und nachhaltige Projekt.

Die florierende Firma bietet inzwischen genügend Aufgaben für das ganze Jahr. Auch wenn im Herbst das Obst geerntet und zu Säften und Schorlen weiterverarbeitet wird: In den anderen Monaten pflegen die Mitarbeiter die Bäume und wickeln die Bestellungen und Auslieferungen im Direktvertrieb ab. „Um die Arbeitsplätze langfristig zu sichern, bauen wir das Spektrum aus.“ Zum Sortiment und den Dienstleistungen gehören daher auch Garten- und Landschaftspflege, eigene Pachtflächen und Streuobstwiesen, die Bewirtschaftung fremder Flächen, eigene Bienenvölker, Naturschutzkonzepte und sogenannte Social Days als buchbares Angebot, bei dem Gruppen gemeinsam mit den Mitarbeitern Bäume pflanzen oder Äpfel ernten. „Es geht darum, Ressourcen wertzuschätzen“, sagt Schierhorn.

Die nächsten Wochen bereitet sich das Team auf die bevorstehende Ernte-Saison von September bis November vor. Auch im Norden spüren sie die klimatischen Veränderungen, weshalb die Ernte mitunter schon früher beginnt als in vergangenen Jahren, manchmal ist es August. Der Ernteertrag liegt bei 60 bis 120 Tonnen Früchten pro Jahr, die das Team entweder selbst erntet oder als Spenden erhält. Aus 1,3 Kilo Äpfeln werden dann 0,7 Liter Apfelsaft, dem bei den Mischsäften entweder Birne, schwarze Johannisbeere oder Rhabarber zugesetzt werden. Die Flasche purer Saft kostet 2,20 Euro, die Flasche Mischsaft 3 Euro – und damit etwas mehr als im Supermarkt. „Wir arbeiten viel mit Überzeugung. Uns geht es nicht primär um den Preis und den Erlös, sondern um die Arbeitsplätze“, sagt Schierhorn. Als Vertriebsprinzip setzt die gGmbH rein auf Mund-zu-Mund-Propaganda. „Wir menscheln in allen Bereichen sehr.“ Dennoch ist das Projekt ein gutes Beispiel dafür, dass es sich auch ohne Gewinnstreben finanziell lohnt. „Das Geld hängt an den Bäumen“ hat sich einen breiten Kundenstamm in der Region aufgebaut und ist in den lokalen Einzelhandel eingestiegen. Zudem hat man mit Call a Pizza in der preisumkämpften Delivery-Branche einen lokalen Partner gefunden, der die Saftschorlen als Promotion listet.

„Wir arbeiten hochprofessionell, was viele nicht erwarten“, sagt Schierhorn. Das Geheimnis dahinter: „Wir konfigurieren die Arbeit so, dass sie zu leisten ist und so auch die Motivation bleibt.“ Schierhorns Überzeugung ist es, dass alle voneinander lernen können und jeder etwas kann. Es gehe darum, über den Tellerrand zu blicken und die Unterschiede als Bereicherung wahrzunehmen. Menk ergänzt: „Wir wollen nicht missionieren, sondern einen Ort schaffen, an dem man sich gerne aufhält, da die Arbeit ein großer Teil des Lebens ist.“ Ein Prinzip, das auch andere Arbeitgeber zunehmend erkennen. „Unternehmer merken, dass bestimmte Modelle wie früher nicht mehr funktionieren“, ergänzt sie. Es gebe einen größeren inklusiven Umdenkprozess als noch vor einigen Jahren.

Auch Schierhorn lernte umzudenken. Zu Beginn seines Projekts lief der Gründer noch mit dem Taschenrechner herum und ermittelte, wie viele Äpfel die Angestellten pro Tag ernten sollten. Dabei vergaß er, dass mit der Arbeit, selbst wenn sie langsamer erledigt wird, manchmal ein anderer Lohn einhergeht. „So bleibt zum Beispiel Zeit, um den Regenbogen zu beobachten.“ Das mit dem Taschenrechner hat Schierhorn dann schnell bleiben lassen. Trotz aller Gelassenheit sei es wichtig, auch Grenzen zu setzen und gewisse Dinge zu leisten. „Wir sind auch schon gescheitert, wenn es beispielsweise um eine dauerhafte Suchterkrankung geht“, gesteht er.

In der Regel glückt er aber, der Anschluss an die Gesellschaft und die Stärkung des Selbstwerts. Nicht zuletzt durch das Flaschendesign: Die Saftschorlen zieren die Gesichter von ausgewählten Mitarbeitern. „Frei nach dem Motto: Früher war ich eine Flasche, heute habe ich selbst eine“, sagt Schierhorn und lacht.

Vera König

21.07.2022 | 12:04

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