Ist wirklich alles disruptiv?
Manche Trends sind überschätzt, die Lernfähigkeit auch. In seinem Gastkommentar plädiert Falco Weidemeyer von EY für nachhaltige Veränderung.
Wenn wir ehrlich sind, haben wir auf dem Höhepunkt von Covid mit einem echten Umdenken gerechnet. In der Gesellschaft, in Märkten und bei Unternehmen, im politischen Miteinander. Wir sind davon ausgegangen, dass die Erfahrung von Verletzlichkeit dazu führt, dass wir das Gegeneinander überdenken, das Prinzip von Wachstum und Effizienz zumindest ergänzen und zu einer wertvollen Beschränkung finden. Ökologie sollte von nun an immer oben auf der Agenda stehen, ebenso wie soziale Belange, gleichberechtigt neben wirtschaftlichen Zielen. Eine neue wirtschaftliche Weltordnung unter Freunden sollte entstehen, mit weniger Fokus auf Arbitrage, mehr auf Verlässlichkeit und gemeinsame Werte.
Als die Zinsen stiegen, gingen wir von einer harten Ladung oder sogar Rezession in vielen Märkten aus. Die Inflation sahen wir schon dauerhaft bei vier bis fünf Prozent. Geopolitische Risiken sollten zu einem völligen Umdenken in Unternehmen führen.
Tatsächlich ist nichts davon im erwarteten Maß eingetreten. Wachstum und Effizienz halten sich als Leitmotiv. Ökologische Herausforderungen werden heiß diskutiert, ideologisiert, sind aber bisher in vielen Fällen eher Compliance-Themen als Gegenstand aktiver Gestaltung. Sie sind, ebenso wie soziale Belange, eine Funktion der unternehmerischen Möglichkeiten, mehr als ein Imperativ unternehmerischen Handelns. Wir sind dabei, die Zinsen zu verdauen, natürlich mit Verlusten und Ausfällen, Dämpfern für erfolgsverwöhnte Branchen wie die Immobilienwirtschaft oder vorübergehende Abkühlungen im heißen Deals-Markt, bis sich die Investitionsmittel unweigerlich neue Möglichkeiten suchen.
Alles keine Erdrutsche. Die Inflation kommt langsam wieder in den Griff, auch wenn es negative Überraschungen gibt, wie zuletzt in Europa. Zinssenkungen sind in Umsetzung (Europa) und im Blick (USA). Wir definieren neue Länder als Freunde, um die Energieversorgung abzusichern und neue Handelsrouten aufzumachen. Sonst geht es munter weiter mit der internationalen Arbitrage.
Zugegeben war es anders mit dem Krieg in der Ukraine. Da waren Energieversorgung, Agrarhandel, Rohstofflieferungen und einzelne industrielle Versorgungsstränge plötzlich gekappt, gab es kein drum herumreden, sondern mussten schnell Alternativen her, die wir weitgehend gefunden haben.
Heißt das nun, dass wir uns mehr zurücklehnen sollten, dass wir besser abwarten? Sicher nicht, aber die Auswirkung der Trends wird tendenziell kurzfristig über- und langfristig unterschätzt. Gleichzeitig wird die Entwicklung der Lernkurve zu steil erwartet. Das sollten wir zum Anlass nehmen, etwas gelassener mit dem Begriff Disruption umzugehen, aber auch als Ermahnung zur Veränderung verstehen. Auch, wenn der Trend überschätzt wird, ist die Richtung doch klar – und wer sich schneller anpasst, sichert sich Vorteile für die Zukunft. Es ist gut, Ruhe hineinzubringen, Augenmaß, Fokus, aber es darf nicht zur Ignoranz werden, sondern sollte etwas mehr Freiraum zur Umsetzung der nötigen Veränderungen bringen.
11.09.2024 | 14:33