Christina Dütting spricht ihr Leben in ein Mikrofon: Das Hörbuch macht sie für Angehörige lebendig, auch wenn sie nicht mehr ist (Foto: Stern).

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Als Hörfunkjournalistin begleitet sie Sterbende: Judith Grümmer (Foto: Stern).



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Wenn nur die Stimme bleibt

Geschenktes Glück: Wie aus sozialem Engagement ein Unternehmen wird

Die Stimme überlebt: Das Familienhörbuch ermöglicht sterbenskranken Müttern und Vätern, eine Audiobiografie als Erinnerung zu hinterlassen. Ein europaweit einmaliges Projekt.

Ein trüber Tag in der Eifel im November 2020: Christina Dütting sitzt mit Mikrofon am Esstisch und nimmt ihre Lebensgeschichte auf. Die Mittdreißigerin mit den roten Haaren ist unheilbar an Krebs erkrankt. Sie möchte ihren drei Kindern Paul, Emma und Anna und ihrem Mann Olli ein letztes Geschenk machen: ein persönliches Hörbuch. So überlebt ihre Stimme, auch wenn sie selbst irgendwann nicht mehr da ist. Um die vielen Stationen ihres Lebens aufzusprechen, sitzt Dütting im Wochenendhaus von Judith Grümmer. Die Hörfunkjournalistin und Audiobiografin hilft ihr bei der Aufnahme. Mit ihrem Familienhörbuch ermöglicht Grümmer sterbenskranken Müttern und Vätern mit minderjährigen Kindern die Erstellung einer professionellen Audiobiografie. „Die Stimme ist etwas ganz Individuelles und Besonderes“, sagt die 62-Jährige. „Aber sie ist auch das Erste, das nach dem Tod vergessen wird.“ Das Familienhörbuch ist ein Zukunftsgeschenk für die Nachwelt. Erinnerung und Trost zugleich.

Grümmers soziale Initiative ist europaweit einzigartig. Die Familienhörbuch gGmbH, deren Geschäftsführerin und Gesellschafterin sie ist, ist eine gemeinnützige Organisation mit Sitz in Köln. Das Angebot für die Projektteilnehmer – so nennt Grümmer die Menschen, die zu ihr kommen –  ist kostenlos, zeitnah und unbüro-kratisch. Kriterien dafür, dass man ein Hörbuch aufnehmen darf, sind eine palliative Erkrankung und minderjährige Kinder. Erinnerungen, Liebevolles, Unausgesprochenes – das alles wird mit der dem Kind so vertrauten Stimme erzählt und hinterlassen. Mit dem Familienhörbuch können die Angehörigen den geliebten Menschen immer hören und sich ihm nahe fühlen. „Heute wissen wir, wie bedeutsam das Familienhörbuch für die Betroffenen auf ihrem schweren Weg des Abschiednehmens ist. Und wie kostbar es für die ist, die zurückbleiben“, sagt Grümmer.

Schon als junge Frau beschäftigte sich die Initiatorin und Journalistin beruflich mit dem sie so bewegenden Thema Palliativmedizin. Als Grümmer später selbst Mutter von drei Söhnen (heute 27, 31 und 33) wurde, drängte sich ihr die Frage auf: Was würde ich machen, wenn ich selbst krank bin? So entstand die Idee, dass Kranke etwas für ihre Lieben aufnehmen. 2004 begann Grümmer als Nebenjob damit, Familienhörbücher zu produzieren – damals allerdings ausschließlich für zahlende Senioren. Nach einigen Jahren spürte sie, dass der Zeitpunkt gekommen war, die Zielgruppe zu ändern: in Eltern mit heranwachsenden Kindern. „Es sind Menschen, die noch keine Spuren hinterlassen haben und die es plötzlich trifft.“ Sie steckte gerade mitten im Aufbau des neuen Projekts, als ihr Mann 2014 die Diagnose unheilbarer Krebs erhielt. Drei Jahre lang begleitete sie ihn durch seine Erkrankung, ehe sie 2017 das Familienhörbuch gründete. Wissenschaftlich begleitete Professor Lukas Radbruch, Direktor der Klinik für Palliativmedizin der Universitätsklinik Bonn, das Vorhaben. Im März 2020 lief die Anlaufförderung der Rheinenergie-Stiftung Familie aus. Seitdem finanziert sich die gemeinnützige gGmbH über engagierte Sponsoren und Förderer. Bei Crowdfunding- und Spendenaktionen kamen vergangenes Jahr rund 250.000 Euro zusammen. Grümmers langfristiges Ziel ist es, das Familienhörbuch bundesweit als therapiebegleitendes Angebot zu etablieren.

Etwa 6.000 Euro kostet es, ein Familienhörbuch zu produzieren. „Ein Familienhörbuch ist ein Kunstwerk, eine dramaturgische Inszenierung“, erklärt Grümmer. Für die inhaltlich und künstlerisch durchkomponierte Audiobiografie braucht es etwa 100 Arbeitsstunden. Das eigene Leben ist dann in sechs bis 15 Stunden Laufzeit nachzuhören. Viele Teilnehmer nehmen das Hörbuch außerhalb des eigenen Zuhauses auf, wenn nötig, kommt das Team auch auf die Palliativstation. „Es ist von Vorteil, wenn man sich für die Aufnahme, die in der Regel drei Tage dauert, aus dem Alltag herausnimmt“, erklärt Grümmer. 2020 haben Grümmer und ihr rund 40-köpfiges Team insgesamt 55 Familienhörbücher bundesweit produziert. Inzwischen erreichen die Hörbuch-Experten schon Anfragen aus Österreich, Belgien, den Niederlanden und Korea.

Insbesondere Menschen zwischen Mitte 30 und Mitte 40 mit unheilbaren Krankheiten wie Krebs und ALS nehmen ihre Audiobiografie auf, vorwiegend Frauen. Grümmer empfiehlt ihnen, möglichst früh mit dem Hörbuch zu beginnen. „Optimal ist es, das Werk noch gemeinsam als Familie anzuhören.“ Und nicht als Stimme aus dem Jenseits. Ohnehin gehe es im Hörbuch nicht ausschließlich um das Sterben, sondern vielmehr um „das Feiern des Lebens“. Das Hörbuch erzählt vom Leben – vom schönsten Erlebnis in der Kindheit, der ersten Liebe oder den Flitterwochen. Die tödliche Krankheit nimmt nur einen Teil der Gesamtkomposition ein. „Das Hörbuch ist ein Stück Zeitgeschichte.“ Erzählen und Zuhören drücke Wertschätzung aus. „Wir sind tief im Schicksal und in der Lebensgeschichte der Menschen drin“, sagt Grümmer. Daher erhalten Teilnehmer und Team nach Bedarf auch wissenschaftliche Begleitung, zum Beispiel durch Psychologen. „Mitfühlen, aber nicht Mitleiden“ nennt die 62-Jährige ihren Weg, um mit den schweren Schicksalen umzugehen.

Schicksale wie das von Christina Dütting. Heute, acht Monate nach der Hörbuch-Aufnahme, befindet sich die 36-Jährige in einer „schwierigen Phase“, wie sie selbst sagt. Die Metastase in ihrem Kopf ist gewachsen. Es gibt keine weitere Behandlung mehr, die Ärzte können nur noch beobachten. Trotzdem versucht Dütting die kräftezehrende Zeit positiv zu meistern. Diesen positiven Schwung kennzeichnet auch ihr Familienhörbuch: Von den 52 Kapiteln über ihr Leben handeln nur zwei von der Diagnose und der Krankheit. Ihre große Tochter (13) und ihr Mann haben schon etwas angehört – einzelne Kapitel. Die beiden kleinen Kinder (5 und 9) noch nicht. „Es ist für die Zeit danach gedacht“, erklärt Dütting. Ihr ist bewusst, wie kostbar dieses Geschenk für ihre Familie einmal sein wird. „Ich habe riesengroßes Glück, dass ich das Hörbuch machen durfte“, sagt sie voller Freude. Denn ihre Stimme, sie wird bleiben.

Weitere Informationen und Spendenmöglichkeiten unter familienhoerbuch.de.   

Über diese Serie

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Vera König

15.07.2021 | 10:14

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