Christian Lindner, Bundesvorsitzender der Freien Demokraten, steht bei einem Wahlkampftermin der FDP zur Bundestagswahl auf dem Podium auf der Rennbahn in Krefeld, Foto: picture alliance/dpa/Revierfoto | Revierfoto



Karrierealle Jobs


Christian Lindner wird zum Kanzlermacher

Der Bundestagswahlkampf ist unerwartet spannend geworden. Nie waren so viele Regierungsoptionen möglich wie 2021. Doch im nahenden Koalitionspoker entscheidet am Ende nur ein Parteichef, welche Regierung Deutschland bekommt.

Von Wolfram Weimer

Christian Lindner ist der Wahlkampf-Glückskeks des Jahres. Nach Analysen der Meinungsforschungsinstitute gewinnt er rechnerisch derzeit jede Woche 100.000 FDP-Wähler hinzu – in der Regel frustrierte CDU-Wähler. Je miserabler der entgleiste Unionswahlkampf läuft, desto stärker wird die FDP. Die Liberalen müssen nicht einmal einen besonders pointierten Wahlkampf machen, es reicht, dass Lindner – anders als Baerbock und Laschet – keine Fehler macht und seriös-geradlinig auftritt. Selbst die grüngewogene Wochenzeitung “Die Zeit” verneigt sich inzwischen vor einem Lindner, der “Fehler diesmal anderen überlässt”, mittig-ausgleichend wirkt, nicht provoziert und “schon so nach Minister aussieht”.

Man reibt sich die Augen. Denn die FDP startete ins Wahljahr 2021 mit ebenso mageren wie heiklen 5 Prozent in den Umfragen. Mittlerweile ist sie deutlich zweistellig, selbst das historische FDP-Rekordergebnis von 14,6 Prozent aus dem Jahr 2009 scheint plötzlich möglich. Die Grünen waren vor kaum zwei Monaten noch doppelt so stark, jetzt trennt beide Parteien nur noch ein Hauch. Je grimmiger die Miene von Armin Laschet, je gequälter das Lächeln von Annalena Baerbock im Wahlkampf werden, je ernster Olaf Scholz seinen Führungsanspruch beteuert, desto heiterer strahlt ein lässiger Christian Lindner. Denn der Wahlkampf verläuft zusehends nach dem Muster “wenn drei sich streiten, freut sich der Vierte”.Die Schwäche der anderenDie FDP legt nicht nur in den Umfragen zu.

Die Schwäche von Union und Grünen führt auch dazu, dass die FDP in eine strategische Schlüsselposition gerät. Weder Union noch SPD oder die Grünen werden voraussichtlich eine Zweierkoalition bilden können. Jeder, der Deutschland regieren will, wird am Ende die FDP brauchen. Ob Deutschland künftig von einer Jamaika-, Ampel- oder Deutschlandkoalition geführt wird, hängt nach jetzigem Stand der Umfragen letztlich also von Christian Lindner ab. Olaf Scholz wird eine Ampelregierung nur bilden können, wenn die FDP mitmacht. Armin Laschet wird eine Jamaika-Regierung nur anführen, wenn die FDP das will. Eine Deutschland-Koalition – ob unter Führung von SPD oder CDU – wird ebenfalls nur kommen, wenn Christian Lindner darin einwilligt.Ausländische Medien entdecken daher Lindner als “Königsmacher” oder “Schlüsselfigur” für die deutsche Zukunft.

Damit hat das Wahljahr eine verblüffende Pointe – die anfangs wegen ihrer Randständigkeit belächelten Liberalen sind am Ende die Entscheider der Republik. Ausgerechnet Christian Lindner wird letztlich bestimmen, wer in Deutschland neuer Kanzler wird.Da mit einiger Wahrscheinlichkeit die FDP von den anderen gebraucht wird, beginnen CDU, SPD und Grüne bereits damit, die Liberalen eher zu schonen – was den Wahlkampf für die Liberalen noch einmal leichter macht. Schon jetzt attackieren sich Grüne, Union und SPD wechselseitig, die FDP aber wird weitgehend in Ruhe gelassen. Strategisch denkende Wechselwähler werden in dieser Stimmungslage immer häufiger überlegen, diesmal die FDP zu wählen, weil man damit immer an der Siegerkoalition beteiligt sein wird. Wahlforscher sagen “ein Momentum” zugunsten der Liberalen voraus: Die FDP könnte 2021 so stark werden wie noch nie.Für Lindner persönlich ist diese verblüffende Wende eine persönliche Genugtuung. Drei Jahre lang litt er unter seiner Absage an die Jamaika-Verhandlungen von 2017 (“Besser nicht regieren, als schlecht regieren”) und wurde als wankelmütiger Kantonist landauf landab bekrittelt. Zudem fand er mit einer unerfahrenen Fraktion nur schleppend in die Opposition. Erst war im Zuge der Migrationsdebatten die AfD die tonangebende Opposition im Parlament, dann beherrschten Klima- und Dieselfragen die Szenerie und alles hörte auf die Grünen. Greta schien cooler als Christian. Die FDP fühlte sich zusehends wie ein Komparse im neuen schwarz-grünen Film der Politik. Dann brach auch noch das Thüringendebakel über die Liberalen herein. Die FDP und mit ihr Christian Lindner wirkte wie verschwunden im Nebel der Bedeutungslosigkeit.Pandemiekritik, aber seriös

Doch mit der Pandemie kam die politische Wende. Lindners FDP formulierte erst zaghaft, dann immer forscher die mittig-abwägende Freiheitsposition zwischen wilden Querdenkern und strengen Gouvernantenstaatlern. Seit Monaten warnt er vor dem übergriffigen Staat und mahnt die Verteidigung der Bürger- und Freiheitsrechte an. Kurzum: Seine liberalen Themen haben unerwartet Konjunktur. Quarantänen seien “Methoden des Mittelalters”. Dagegen gebe es doch moderne, liberale, digitale Alternativen. “Die digitalen Defizite unseres Landes gefährden Gesundheit, Freiheit und Wirtschaft in der Corona-Krise”, wettert er. Und so gelingt ihm derzeit selbst die Vereinigung seiner Wirtschafts- mit den Bürgerrechtsliberalen, denn beide wollen zurück zur freien Republik freier Bürger. Lindners Motto: “Zu schnell wird aus dem legitimen Ziel des Gesundheitsschutzes sonst eine Überwachungsgesellschaft.” Die neue Storyline funktioniert.Die Lage entwickelt sich für Lindner so gut, dass er mittlerweile wie der gesetzte Finanzminister (für das Amt bringt er sich selbst unverblümt ins Spiel) der nächsten Dreierkoalition auftritt und Noten verteilt. Mal rüffelt er die CDU und bezweifelt, dass Armin Laschet die Führungskraft habe, die Anliegen der Grünen nach “Umverteilung, Bevormundung und Subventionierung” zurückzuweisen. Dann wieder rügt er: “Da die CDU inhaltlich nichts bietet, stehen wir allein für wirtschaftliche Vernunft.” Wichtig sei es, “dass nicht die Grünen mit Herrn Habeck den nächsten Finanzminister stellen, sondern die FDP”.

FDP als Bollwerk gegen links

Lindner bricht damit voll hinein in die bürgerliche Wechselwählerschaft. Dort verbreitet sich die Stimmung, dass man entweder Scholz als Kanzler nicht mehr verhindern könne oder aber einen schwachen CDU-Kanzler Laschet bekomme, dann aber jeweils eine starke, wirtschaftsfreundliche FDP in der Regierung als bürgerliches Korrektiv gebraucht werde. Lindner spürt das, und gräbt immer tiefer hinein ins bürgerliche Milieu der verzweifelten Unionsgefolgschaft. Ihnen ruft er die gewagte, beinahe übermütige Interpretation zu, die FDP habe bereits nach den Wahlen 2017 eine Linksverschiebung der deutschen Politik verhindert.Schwarz und Grün seien damals bereits einer Meinung über mehr Staat, mehr Subventionen, mehr Verbote, mehr Bürokratismus gewesen. “Das ist aber nicht die Basis, auf der wir gestalten wollen. Und so werden wir auch in diesem Jahr alles tun, um eine Verschiebung der Koordinaten der deutschen Politik nach links zu verhindern.” Die 14,6 Prozent, das bislang beste FDP-Wahlergebnis von 2009, könnten fallen.

Quelle: ntv.de

25.08.2021 | 11:21

Artikel teilen: