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Vladimir Putin spielt den Trumpf, oder: Wie der Gasprinz Europa blau frieren lassen kann

Die Energiepreise steigen, weil vor allem Gas knapp ist. Das hängt mit vielem zusammen, aber vor allem damit, dass Russland Gaslieferungen schon seit jeher als politisches Druckmittel betrachtet. Jetzt setzt Gasprinz Putin seine Energievorräte ein, um die Inbetriebnahme von Nordstream 2 zu beschleunigen.

Von Oliver Stock / WirtschaftsKurier

Der Gasprinz, er sitzt im Kreml wäscht die Hände in Unschuld, derweilen im westlichen Europa die Schlacht ums Gas begonnen hat. Der Gasprinz - es ist Vladimir Putin, der russische Präsident. Sein Reich umfasst auch Gazprom, das weltweit größte Erdgasförderunternehmen, das mit einer Marktkapitalisierung von rund 98 Milliarden US-Dollar knapp doppelt so groß ist wie etwa der deutsche Chemieriese Bayer. Der russische Staat hält 50 Prozent und eine Aktie an dem Unternehmen und hat im Aufsichtsrat die Mehrheit der Sitze. Der Chef von Gazprom ist seit zwei Jahrzehnten der Russlanddeutsche Alexei Miller. Putin hat ihn mehrfach mit Verdienstorden des Vaterlandes bedacht und jüngst den Vertrag des Managers um fünf Jahre verlängert. Das US-Magazin Forbes hält ihn für einen der mächtigsten – und reichsten - Menschen der Welt. Wenn Putin der Gasprinz ist, ist Miller sein Generalfeldmarshall, der mit einem Röhrennetz von mehr als 200 000 Kilometern Länge, durch das er sein Gas in Russland verteilen und Richtung Westeuropa leiten kann, über warm oder kalt, über günstigen oder teuren Strom, über hell oder dunkel entscheiden kann. Derzeit sieht es so aus, als haben sich der Prinz und sein Marshall für kalt, teuer und dunkel entschieden. „Europa läuft vor Kälte blau an ohne russisches Gas“, titelte gerade die Moskauer Tageszeitung „Nesawissimaja Gaseta".
Passiert ist in Westeuropa folgendes: Die Preise schießen nach oben, was vor allem mit steigenden Energiekosten zu tun hat. Besonders steil verläuft der Anstieg beim Erdgas. Allein seit Januar 2020 hat sich der Preis an den Terminmärkten stark verteuert. An einem der wichtigsten virtuellen Gasterminmärkte, dem „Title Transfer Facility“ in den Niederlanden, explodierte der Preis für Erdgas pro Megawattstunde von knapp 17 Euro am 4. Januar 2021 auf inzwischen mehr als 72 Euro. Das war ein Rekord-Anstieg von mehr als 320 Prozent. Zum Vergleich: Normalerweise bewegt sich der Preis an dieser Börse im langjährigen Mittel zwischen 15 und 20 Euro. Natürlich gibt es auch andere Märkte, die nicht ganz so große Dramatik bieten. An den Spotmärkten zum Beispiel, wo kurzfristig Erdgas den Besitzer wechselt, wirkt der Preisanstieg schon weniger dramatisch: Hier hat er sich für Erdgas zwischen Januar und August „nur“ mehr als verdoppelt. Doch ganz gleich, auf welcher Basis Erdgas gehandelt, sein Wert berechnet und Preisentwicklungen verglichen werden: Es ist ganz eindeutig teurer für Industrie- und Privatkunden geworden.

Das größere Problem damit haben Industriekunden, die auf Erdgas angewiesen sind. Allein die chemische Industrie verbraucht den fossilen Energieträger in rauen Mengen. Ein Großteil des industriellen Verbrauchs geht auf das Konto der Branche. Dazu kommen Stahlproduzenten, die auf Gas bei der Erzeugung von Spezialstahl angewiesen sind. Der größte Nutznießer der Entwicklung wiederum, ist natürlich der, der an der Quelle sitzt. Je mehr das Gas kostet, um so mehr bleibt in den Kassen von Gazprom hängen. Der Gasprinz könnte also zufrieden sein.

Er muss gar nicht viel machen, denn die Preissteigerung für Gas hat vier Ursachen, die nicht er zu verantworten hat. Ein zentraler Grund für die galoppierenden Gaspreise ist die starke Nachfrage aus Asien, wo nicht nur die Wirtschaft Chinas nach der Pandemie wieder Fahrt aufgenommen hat. Mittlerweile nehmen auch Schiffe mit US-Flüssiggas lieber Kurs auf Shanghai oder Osaka. Dort wird nämlich mehr für das von Ex-Präsident Donald Trump so stark beworbene „Freedom Gas“ gezahlt als in Europa.

Zweiter Grund: In Europa herrscht akute Gasknappheit. Die großen Gasspeicher sind für die Jahreszeit ungewöhnlich leer. Der nach dem Ende vieler Corona-Maßnahmen wieder anziehende Bedarf wurde aus ihnen gedeckt. Sie jetzt wieder nachzufüllen wird teuer, normalerweise wird früher im Jahr günstiger für Nachschub gesorgt. „Der Anreiz für Händler und Versorger, jetzt viel Gas für die Speicherung zu kaufen, ist niedrig“, sagt Gasmarktexperte Jens Völler vom Berliner Beratungsunternehmen Teamconsult mit Blick auf die hohen Gaspreise.

Außerdem, und das ist der dritte Grund, macht sich der CO2-Preis bemerkbar. Er wird durch Klimaschutzvorgaben der Europäischen Kommission nach oben getrieben, weil die EU die Emissionen senken will. Das funktioniert im Prinzip auch, hat jedoch zur Folge, dass die Nachfrage zunächst von der Kohle zum Gas gelenkt wird, dessen Verbrennung weniger CO2-Emissionen zur Folge hat.

Und schließlich haben sich die Gashändler in der EU unter dem Eindruck des Emissionshandels schlicht verzockt. Anstatt langfristige Lieferverträge auszuhandeln, ist die EU zum kurzfristigen Handel an den Energiebörsen übergegangen. Rainer Seele, Präsident der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer und ehemaliger Chef der Energieunternehmen Wintershall und OMV kritisiert, dass in der EU zu sehr auf „das freie Spiel von Angebot und Nachfrage gesetzt wurde“. Durch den Verzicht auf langfristige Lieferverträge für Pipelinegas gebe es nun Risiken, „unter deren Folgen jetzt die europäische Industrie und Millionen privater Haushalte leiden.“

In dieser kippligen Situation genügen dem Gasprinz schon wenige Worte, um den fragilen Markt in die eine oder andere Richtung zu lenken. Die Ukrainer, die seit Jahrzehnten auf das Gas des ungeliebten und übergriffigen Nachbarn angewiesen sind, kennen das System: Russland nutze Gas nicht nur als Ware, sondern als geopolitisches Druckmittel, meint Mychajlo Hontschar, Leiter des ukrainischen Zentrums für globale Studien. Der nie dagewesene Anstieg der Gaspreise sei das Ergebnis einer Strategie des Kremls, die Gaslieferungen an die EU künstlich zu reduzieren. Seine Vermutung: Gazprom will eigentlich alle Spielregeln brechen. „Auf diese Weise soll die EU erpresst werden, alle rechtlichen Beschränkungen für den Betrieb der Pipelines Nord Stream 1, Nord Stream 2 und Turkish Stream aufzuheben”, sagt der Experte im Interview mit einer ukrainischen Tageszeitung. Er spricht vom Gasmarkt als einen Schauplatz für „Kriegsoperationen“. Der deutsche Grünen-Politiker Oliver Krischer stößt ins gleiche Horn. Er ist sich sicher: „Mindestens die Hälfte des gestiegenen Gaspreises geht auf das Konto von Gazprom und Wladimir Putin. Das ist auch das taktische Begleitspiel, um die Genehmigung der Nord Stream 2 Pipeline durchzudrücken“, erklärt Krischer.

Damit ist das Vorhaben sowohl von ukrainischer wie von deutscher Seite benannt, um das es Putin tatsächlich gehen könnte: Nordstream 2. Der Kreml macht keinen Hehl daraus, dass die fertiggestellte, aber bisher nicht in Betrieb genommene Pipeline zur Achillesverse geworden ist. In einer Mitteilung vom 7. Oktober stellt der stellvertretende russische Ministerpräsident und Energieminister Alexander Nowak fest, Russland sei bereit, in diesem Jahr „Rekordmengen an Gas” nach Europa zu exportieren. Aber: Dafür müsste die Gaspipeline Nord Stream 2 schnell zertifiziert werden. Tom Marzec-Manser Gasanalyseleiter des Beratungsunternehmen ICIS in London interpretiert das so: Russland und Gazprom schränken die Exporte nach Europa strategisch und absichtlich in dem Sinne ein, dass sie die zusätzliche Nachfrage nicht deckten. „Vielleicht um die Entscheidungsfindung der deutschen und europäischen Behörden bezüglich der Zertifizierung von Nordtream 2 zu beeinflussen und zu beschleunigen.“

Und in der Tat tut sich um Nordstream 2 derzeit Merkwürdiges oder genauer: Das Merkwürdige ist, dass sich nichts tut. Die umstrittenen Ostseepipeline ist fertig gebaut, aber darf aufgrund fehlender Zertifizierungen nicht in Betrieb gehen. Wegen EU-Auflagen muss die Pipeline in den deutschen Hoheitsgewässern von einem unabhängigen Dritten betrieben werden, damit Gasförderung und der Transport nicht in einer Hand liegen. Die Nordstream 2 AG, hat dazu bei der Bundesnetzagentur einen Antrag gestellt, dass sie selbst als unabhängiger Übertragungsnetzbetreiber auftreten will. Ob das aber mit den EU-Auflagen in Einklang zu bringen ist, gilt unter Fachleuten als höchst fraglich. Bis zu zehn Monate Zeit haben Bundesnetzagentur und EU, um den Zertifizierungsantrag für Nord Stream 2 zu bescheiden. Dass dann wieder Sommer ist, nachdem sich Europa einen Winter lang blaugefroren hat, ist denen, die diesen Genehmigungsprozess betreiben, offenbar egal. Unerklärlich ist auch, warum diese Hürde erst nach Fertigstellung der Pipeline auftaucht und an einer Lösung nicht schon vorher gearbeitet wurde. Beim Gasprinz jedenfalls kommt das nicht wirklich gut an und er lässt seine Muskeln spielen.

In der EU allerdings will sich niemand erpressen lassen und sich schon gar nicht den Anschein geben, rechtstaatliche Verfahren auch nur zu beschleunigen, damit das umstrittene Projekt Nordstream 2 in Betrieb gehen kann. Die politischen Hindernisse angefangen von den polnischen Bedenken gegen das Projekt bis hin zum zeitweiligen amerikanischen Veto, waren schon groß genug. Deswegen bleibt den Europäern nichts anderes übrig als an das Gewissen des Prinzen zu appellieren. Der Exekutivdirektor der Internationalen Energieagentur (IEA), Fatih Birol, fordert Russland auf, zu beweisen, dass es ein „zuverlässiger Lieferant“ sei, indem es dazu beitrage, die Angebotskrise zu lindern. Und die noch amtierende Bundeskanzlerin Angela Merkel schloss sich der Argumentation Putins an und sagte: „Russland kann ja nur Gas liefern auf der Grundlage von vertraglichen Bindungen und nicht einfach so.“ Es stelle sich die Frage, ob überhaupt genug Gas bestellt worden sei. Putin wird das mit Zufriedenheit gehört haben. Die Strategie von ihm und Gazprom-Manager Miller jedenfalls, russisches Gas so teuer wie möglich zu verkaufen und die neue Pipeline möglichst bald mit Gas zu füllen, geht auf.

14.10.2021 | 10:12

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