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Der schwäbische Sandmännchen-Astronaut

Nach 166 Tagen im All ist Alexander Gerst strahlend nach Hause gekommen. Als gefühlvoller Medienstar hat er die Astronautenrolle völlig neu definiert.

Astronauten waren bislang coole Kerle mit ernster Miene. Ihre Welt war halb Wissenschaft, halb Militär und ganz Sachlichkeit. Wie stählerne Piloten von Kampfflugzeugen oder knurrige Raketen-Ingenieure mit Mathematiker-Humor. Sie sprachen in kurzen Sätzen und konzen­trierten sich auf das Wesentliche. So staubrein wie ihre Zellen war auch ihr Gestus. Kontrolle war oberstes Gebot, und so bewegten sie sich in einer kühl-faszinierenden Welt, deren höchster Grad an Emotionalität im Satz „Houston, wir haben ein Problem“ lag.

Bis jetzt. Ausgerechnet ein Deutscher hat das Astronautenmilieu emotional ein gutes Stück weit gewärmt. Der Schwabe Alexander Gerst war 166 Tage im All und dabei kein bisschen Technokrat, umso mehr aber menschelnder Kommunikator. Mit seiner warmherzig-fröhlichen Art ist er zu einem überraschenden Publikumsliebling für Millionen geworden. Denn Gerst hatte einen besonderen Mut – er zeigte jede Menge Gefühle und teilte sie allen mit.

Ein Erklärbär des Weltalls

Er verbreitete Fotos, Anekdoten und Videos in den sozialen Netzwerken – zuletzt filmte er Polarlichter über Neuseeland. Zigtausende von Followern flogen mit ihm um die Erde. Denn Gerst ließ alle lustvoll teilhaben an seinem eigenen kindlichen Staunen. Plötzlich war ein Astronaut nicht mehr fern und kühl, sondern nahbar. Wie ein Erklärbär des Medienzeitalters definiert Gerst damit die Rolle des modernen Astronauten um zu einem All-Reise­führer für die Unten-Gebliebenen. So sind manche seiner Sätze Legende geworden, Sätze wie: „Die Schönheit der Erde erkenne ich in einer Minute, die Zerbrechlichkeit sogar auf den ersten Blick.“

Allein seine außergewöhnliche fotografische Ausbeute hat ihm in den globalen Medien enorme Aufmerksamkeit verschafft. Hunderttausende Follower verfolgten seine fast täglichen Berichte auf Twitter: Fotos von Städten, vom Leben auf der ISS oder seine Gedanken. „In mondlosen Nächten kommt es mir manchmal so vor, als hinge die Erde wie eine monströse schwarze Kugel über mir“, schrieb er in einem seiner Tweets.

Während der Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien spielte Gerst mit seinen Kollegen Fußball in der Schwerelosigkeit. Seinem Astronauten-Kollegen Reid Wiseman rasierte er eine Glatze, nachdem dieser eine Fußballwette verloren hatte. Und er schwenkte stolz die Deutschland-Fahne mit der strahlenden Freude eines echten Fans in der Stadionkurve. Er gab Live-Interviews aus dem All und Lehrstunden für Wissbegierige gleich dazu. Sein Start wurde in Public Viewings übertragen. „Völlig losgelöst von der Erde, schwebt das Raumschiff völlig schwerelos.“

Doch Gerst nutzte seine neue Rolle als Astro-Popstar auch für politische Botschaften. Für die Aussöhnung mit Russland zum Beispiel. Während sich unten die Ukraine-Krise grimmig zuspitzte, zeigte er oben demonstrativ, wie gut man mit Russland eigentlich auskommen könne. Er ließ das Publikum teilhaben an der Freundschaft mit seinen Teamkollegen Reid Wiseman und Maxim Surajev und appellierte von oben für das Einende: Man habe doch so viele Gemeinsamkeiten, nicht zuletzt die gemeinsame Raumfahrerei.

Schon als Schüler ein Lausbub

Und auch auf die Zerbrechlichkeit der Schöpfung machte Gerst aufmerksam, ohne ins falsche Pathos von ökologischen Apokalypsen oder billigen Vorwürfen zu verfallen. Er formulierte seine Mahnung als Liebeserklärung an die Erde – und wurde so viel intensiver gehört. Er sprach über die Welt wie ein Kind über seinen Zaubergarten. Und er machte alles anschaulich: Er freue sich vor allem aufs Joggen im Wald, auf den Geruch der Erde und eine Pizza.

Gersts Weltraumreise war ein wenig wie das kollektive Big-Brother-Containererlebnis im All. Seine offene Persönlichkeit machte die Show perfekt. Denn er ist kein glatter Karrierist und Macher. Er war schon als Schüler ein Lausbub, der seine Lehrer mit Wasserballons bewarf und dafür Tadel bekam. Aber er ist eben auch einer, der kürzlich zur Verabschiedung seines ehemaligen Mathe-Lehrers noch einmal an die Schule kam, um sich für die gemeinsame Zeit zu bedanken.

Gerst ist heimatverbunden, wertkonservativ und ein Familienmensch. „Ich nehme auf die ISS ein vierblättriges Kleeblatt meiner Großmutter mit. Und natürlich Fotos der Familie.“ Und selbst aus seinem Gymnasium in Öhringen im Hohenlohekreis, wo er 1995 Abitur machte, hat er ein Erinnerungsstück mit ins All genommen: einen Füllfederhalter aus massivem Silber. Mit diesem „Weltraumfüller“ sollen künftig die Zeugnisse der Absolventen unterschrieben werden.

Rasierschaum „fängt“ Sägespähne

Kein Hollywood-Regisseur hätte das Abenteuer dieses Kölner Knuddel-Astronauten aus Künzelsau besser erfinden können. So wäre beinahe der Einbau eines der wichtigsten Geräte für Alexander Gersts Mission gescheitert. Gerst sollte einen Schmelzofen im europäischen Raumlabor Columbus einbauen. In ihm wird getestet, wie sich Metalllegierungen in der Schwerelosigkeit verhalten, wenn sie als flüssige Masse schweben. Doch dann klemmte ein Bolzen. Er habe das Problem in „McGyver-Manier“ gelöst, berichtet Gerst bei der letzten Pressekonferenz vor Ende seiner Mission von der Internationalen Raumstation aus.
Er griff kurzerhand zu einer ­Säge und hielt die Späne mit Rasierschaum davon ab, durch die Station zu segeln. Nun steht den Experimenten, die seine Nachfolgerin Samantha Cristoforetti mit dem Schmelzofen machen soll, nichts mehr im Wege. Gerst habe seine Aufgabe mit vielen Experimenten „nicht nur erfüllt, sondern übererfüllt“, sagte Jan Wörner, der Chef des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt in Köln.

„Vielen Dank euch allen, dass ihr mich in den Weltraum begleitet habt. Es war wunderbar dank all eurer Unterstützung!“, twitterte der 38-Jährige zum Abschluss seiner Mission. Der Geophysiker war der elfte Deutsche im Kosmos. Doch er war zugleich das erste mediale Sandmännchen. Astronaut einer neuen Generation des Medienzeitalters.

11.01.2015 | 16:38

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