Licht und Schatten
Eigentlich denkt man, dass mit dem Sommeranfang und den vielen Lockerungen der Covid-19-Beschränkungen die Leichtigkeit des Seins wieder annähernd in greifbare Nähe rücken kann. Und dann verletzt randalierendes Partyvolk in der beschaulichen schwäbischen Metropole Stuttgart 19 Polizisten, verwüstet und plündert die Innenstadt. Und jenseits des Atlantiks blamiert sich ein US-Präsident, der immer mehr Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit aufkommen lässt, bei seinem ersten Wahlkampfauftritt vor halbleeren Rängen.
Es vergeht kaum mehr ein Tag, an dem eine unfassbare und erschreckende Aussage des 45. US-Präsidenten von seinem Regierungsteam nachträglich als „Scherz“ bezeichnet wird und eingefangen werden muss. Nach der Empfehlung, Coronapatienten direkt Desinfektionsmittel intravenös zu verabreichen, verhöhnt er die bisher 120.000 Opfer der Covid-19-Pandemie mit seiner Erkenntnis, die Fallzahlen dadurch zu senken, einfach weniger zu testen. Wo kein Test, da kein Patient. Das ist noch cleverer als der Versuch des brasilianischen rechtspopulistischen Präsidenten Bolsonaro, die Covid-19-Pandemie dadurch zu beenden, dass die Fallzahlen und Todesfälle nicht mehr veröffentlicht werden sollten, was zum Glück gerichtlich verhindert wurde. Die Frage ist: Wie lange kann sich ein Land wie die USA noch einen solchen Präsidenten leisten? Es steht zu befürchten, dass sämtliche Aktivitäten dieses Präsidenten in den nächsten Monaten nur noch im Zeichen des Wahlkampfes stehen und darauf ausgerichtet sein werden, den Zusammenhalt im Land und die Wirtschaft massiv zu beeinträchtigen.
Beim ein oder anderen Punkt besteht sogar Einigkeit mit den US-Demokraten, z. B. bei der generellen Behandlung Chinas. Aber die Art und Weise des Vorgehens und der Aussagen des US-Präsidenten zerschlagen national und international viel Porzellan. Hinzu kommt die Uneinigkeit hinsichtlich des Fortbestandes des im Januar ausgehandelten Handelsabkommens mit China. Der wichtigste Handelsberater der US-Regierung Navarro vermeldete, dass das Handelsabkommen mit China quasi „vorbei“ sei, sein Chef bestätigt per seit neuestem ungeliebtem, aber immer noch eifrig genutztem Twitter-Medium, dass es natürlich noch intakt sei – Ergebnis: Konfusion! Die US-Aktienmärkte nehmen es noch gelassen und orientieren sich lieber an den im Vergleich zum katastrophalen Absturz der Wirtschaft im März und April deutlich besseren Wirtschaftsdaten.
Und Europa? Hat neben einem ausgewachsenen Bilanzskandal des DAX-Titels Wirecard mit dazugehörigem Kursabsturz von 85 % ebenfalls sich deutlich verbessernde Wirtschaftsdaten zu bieten. Zunächst allerdings vor allem im Stimmungsbereich, indem sich die vielbeachteten Einkaufsmanagerindizes auf Europaebene stärker als erhofft erholt haben und bis kurz vor die Wachstumsschwelle gestiegen sind. Dies bedeutet, dass die konjunkturelle Talsohle durchschritten ist. Wie weit die Erholung trägt und sich dann auch in harten Daten zeigt, unterliegt jedoch noch großen Unsicherheiten. Wir sind noch weit weg vom Normalzustand, der z. B. an vollen Bars, Restaurants, Kultureinrichtungen bzw. ‑veranstaltungen oder ausgeprägter Reisetätigkeit abzulesen wäre. Die Insolvenzwelle vieler kleiner Betriebe steht noch aus und wie viele Arbeitsplätze die Kurzarbeitsphase nicht überstehen, bleibt abzuwarten. Die jüngsten Erholungszeichen der Wirtschaft stehen auch immer unter dem Vorbehalt, dass keine ausgeprägte zweite Infektionswelle auftritt. Entgegen der weitläufigen Meinung, dass mit den Lockerungen der Covid-19-Beschränkungen nun diese Pandemie überwunden ist, sondern nach wie vor äußerste Vorsicht angebracht ist, zeigen die massiven Ausbrüche in Schlachthöfen, Hochhäusern und ganzen Stadtteilen nicht nur in Deutschland, sondern auch in Peking, Südkorea oder Lissabon, von der sich immer noch verstärkenden Pandemie in Teilen der USA und vielen Schwellenländern ganz zu schweigen.
Und diese sollten auch Finanzinvestoren walten lassen. Die Freude über die überaus schnelle Kurserholung nach dem schnellsten und stärksten Crash der Geschichte sollte nicht über den steinigen Weg hinwegtäuschen, der vor den Volkswirtschaften liegt.
24.06.2020 | 13:13