Kanzlerkandidatin der Grünen: Annalena Baerbock (Foto: photocosmos1 / Shutterstock)



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Baerbock droht der Ikarus-Effekt

Annalena Baerbock punktet mit Sympathiewerten. Doch die Grünen gehen mit ihrer Kanzlerkandidatur ein Risiko. Denn Baerbock hat keinerlei Regierungserfahrung - noch nicht einmal auf kommunaler Ebene. Ihr Höhenflug könnte abstürzen

Von Wolfram Weimer

Robert Habeck schien 2020 gefühlt schon auf dem Weg ins Kanzleramt. In der K-Frage der Grünen hatte er alle Trümpfe in der Hand. Umfragen sahen ihn bis vor kurzem als möglichen Kanzlerkandidat vor Annalena Baerbock. Er wirkte wie der Erfahrene neben der Streberin; er verfügte - anders als sie - bereits über Regierungserfahrung, zwölf Jahre Altersvorsprung und jede Menge Charisma hatte er ihr voraus. Er kam wie eine Mischung aus George Clooney und Heinrich Böll auf die Bühne der deutschen Politik und faszinierte emotional, wo sie nur sachlich überzeugen wollte.

Doch in den letzten Wochen kippte die Stimmung bei den Grünen. Der Stimmungswechsel zugunsten von Baerbock hat zwei Gründe. Zum einen rührt er daher, dass sie in aller Regel gut vorbereitet und sachkundig auftritt, wo er schon mal schwadroniert und peinliche Wissenslücken offenbart. Sie wirkt diszipliniert professionell, während er zuweilen Opfer seines spielerisch Naturells oder seiner philosophischen Abgehobenheit wird. Habeck kann politische Gegner wie ein knisternder Kamin zu schierer Asche nieder schwadronieren, er kann sich aber auch selber dabei verbrennen. Das passiert Annalena Baerbock nicht. Habeck weiß - wie die Öffentlichkeit erstaunt beobachten konnte - weder wie die Pendlerpauschale noch wie die Bafin genau funktioniert, Baerbock sehr wohl. Habeck wünscht sich schon mal, dass Bayern oder Thüringen endlich richtige Demokratien werden, Baerbock weiß, dass sie es bereits sind. Kurzum: Habeck schrumpfte zusehends in die Rolle des smarten Blenders, Baerbock hingegen hat die Statur einer zupackenden Kompetenzträgerin gewonnen. Just diese Qualität wird in der Coronakrise zusehends mehr geschätzt.

Der zweite Grund für den Stimmungswechsel zugunsten Baerbocks liegt in der veränderten Konstellation der deutschen Politik. Die politischen Lager formieren sich mit Blick auf den Wahltermin im September - und überall übernehmen wieder Männer das Ruder. Die SPD hat Olaf Scholz als Kanzlerkandidaten ausgerufen. In der Union wird auf Angela Merkel ebenfalls ein Mann folgen - Markus Söder oder Armin Laschet. Zusammen mit Christian Linder von der FDP formiert sich also ein reiner Männerclub der Spitzenkandidaten. Damit würde Robert Habeck nur einer mehr von der gleichen Sorte „alter, weißer Männer“ (wie man bei Grünen gerne lästert) wirken, sachlich schlechter präpariert zumal. Baerbock hingegen ist plötzlich ein weibliches Alleinstellungsmerkmal für die Grünen - nicht nur genderseitig, auch generationell.

Doch die prächtige Stimmung bei den Grünen ist nicht frei von Zweifeln. Die Wahlkampfprofis der Partei mahnen an die Wahlkämpfe von 2013 und 2017. In beide waren die Grünen mit glänzenden Umfragewerten gestartet, um dann mit falschen Themen und einer Verbotsparteienhaltung die bürgerliche Mitte zu verschrecken und am Ende bei mageren 8,4 (2013) und 8,9 (2017) zu stranden. Einmal waren es Steuererhöhungen und die Kritik an Autos, das andere Mal war es die Forderung nach einem "Veggie-Day", bei dem die Partei für fleischfreie Tage in den deutschen Kantinen plädierte.

Auch diesmal gibt es das Risiko, dass aus dem linken Flügel der Partei wieder unpopuläre, ideologische Forderungen kommen, etwa die Stigmatisierung von Eigenheimen aus angeblichen Klimagründen. Baerbock wird einen Wahlkampf gegen das Verbotsparteien-Image angehen müssen. Doch die beiden größten Risiken liegen woanders. Zum einen lastet die Option einer Grün-rot-roten Regierungsperspektive auf ihrer Kandidatur. Viele der grünen Neuwähler kommen aus der bürgerlichen Mitte und würden durch die Aussicht auf eine solche Linksregierung mit der SED-Nachfolgepartei wieder verschreckt. Baerbock könnte dieses Problem lösen, indem sie eine solche Koalition ausschließt. Doch wird sie das tun?

Zum andern muss Baerbock gegen eine persönliche Schwäche ankämpfen. Sie will Bundeskanzlerin werden, hat aber noch nie irgendetwas regiert, nicht einmal ein Rathaus oder Landratsamt. Ihr fehlt jedwede Regierungserfahrung, doch sie greift nach dem höchsten Regierungsamt in Staat. Das hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben. Alle bisherigen Bundeskanzler hatten in unterschiedlichen Positionen Regierungserfahrung sammeln können. Für Deutschland - einem Land, da jeder Elektriker erst seinen Meisterbrief nachweisen muss ehe er Stromkabel verlegen darf -  ist das eine wichtige Kategorie. Robert Habeck betonte daher bei der Präsentation von Baerbock, dass er hilfsbereit seine Erfahrung in Regierungen und Koalitionsverhandlungen „einbringen“ werde.

Für Baerbock endet nun die Wohlfühlphase der medialen Beobachtung. Ab sofort wird sie von der Öffentlichkeit auf Kanzlertauglichkeit geprüft und kritisiert. Sie ist sympathisch und kompetent, und sie ist eine erfolgreiche Parteipolitikern gewesen. Aber der Maßstab für ihren jetzigen Anspruch ist ungleich höher. Baerbock droht damit der Ikarus-Effekt - ein Absturz, weil sie der Sonne der Macht zu hoch entgegen fliegen will.

19.04.2021 | 13:31

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