Corona: Ausgerechnet Brasilien und Schweden werden zu Musterländern
Die in der Pandemie meistgescholtensten Länder haben derzeit die niedrigsten Inzidenzwerte. In Brasilien laufen deswegen die Karnevalsvorbereitungen auf Hochtouren und Stockholm bereitet sich auf Weihnachtsmärkte ohne Maske und Impfausweis vor. Wirkt die sogenannte Herdenimmunität?
Die Corona-Landkarte steht Kopf, jedenfalls aus der Sicht derjenigen in Deutschland, die glaubten, im eigenen Land läuft es ganz gut und anderswo, wie in Brasilien und Schweden läuft es richtig schlecht. Die nüchternen Zahlen lassen derzeit den umgekehrten Schluss zu: Im wegen seiner Corona-Politik gescholtenen Brasilien lag die Inzidenzzahl am Wochenende bei 27 Fällen auf 100 000 Einwohnern innerhalb von sieben Tagen. Und dies, obwohl die Quote der vollständig Geimpften mit 60 Prozent alles andere als beeindruckend ist. Dem Karneval in Rio steht dennoch damit nichts mehr entgegen.
In Schweden ein ähnliches Bild: Die Zahl der durchschnittlichen Neuinfektionen liegt bei niedrigen 62, die Impfquote knapp unter 70 Prozent. Dem traditionellen Weihnachtsmarkt in Gamla Stan, der historischen Altstadt von Stockholm steht damit nichts mehr entgegen. Deutschland mit seinen durchschnittlich 373 Neuinfizierten, sieht deutlich schlechter aus, Weihnachtsmärkte und Karnevalssitzungen werden reihenweise abgesagt. Wie kommt es, dass ausgerechnet Basilien und Schweden derzeit weit vorn in der Bekämpfung der neuerlichen Corona-Welle liegen?
Vor einem Jahr war das lebhafte Rio de Janeiro eine Geisterstadt: Die weltberühmte Arena, das schnurgerade Sambodromo, menschenleer. Der Karneval, sonst Symbol für Lebensfreude: ausgefallen. Doch nun kehrt das Leben mit voller Pracht zurück: Die Stadtverwaltung von Rio de Janeiro hat bekannt gegeben, dass es in dieser Session mehr als 500 „Blocos“ geben wird – das sind die populären Stadtviertelszüge des Straßenkarneval, zu denen Hunderttausende zusammenkommen. „Ich glaube, Karneval 2022 wird ein Recycling der Gefühle“, sagt Sambalehrerin Savia David im Gespräch mit einem Reporter der Augsburger Allgemeinen. Der Mann aus dem Corona gebeutelten Bayern berichtet staunend aus Rio, wo laut Medienportal Brasil de Fato 90 Prozent der über 18-Jährigen komplett immunisiert sind. In den Großstädten Brasiliens, und darin liegt ein Grund für die niedrigen Inzidenzzahlen, ist die Impfquote hoch. Und das wirkt: In Rio de Janeiro wurde vergangene Woche der vorerst letzte Patient eines Spezial-Krankenhauses für Corona entlassen. Sao Paulo, eine der größten Städte der Welt, meldete an diesem Wochenende zum ersten Mal seit langem, keinen Corona-Toten mehr.
Das war eine Sensation, angesichts von mehr als 610.000 Covid-Toten, die die Pandemie in Brasilien bisher gekostet hat. Bei 2,8 Prozent liegt die Rate derjenigen, die erst krank und dann gestorben sind. Die Zahl der Toten und Neuinfektionen ist aber inzwischen auf dem Stand wie zu Beginn der Pandemie, und das alles trotz eines Präsidenten Jair Bolsonaro, der bis heute an seiner Impfskepsis festhält. Er gehört zu den Genesenen und hält es deswegen auch für unnötig, sich selbst impfen zu lassen. Die Tatsache, dass das Virus in den vergangenen Monaten stärker wütete als anderswo und viele Genesene und damit viele immunisierte Menschen hinterlassen hat, aber auch der Umstand, dass Brasilien auf den Hochsommer zusteuert, in dem die Infektionen stets zurückgehen, sind Gründe für die niedrigen Inzidenz-Zahlen. Brasilien bietet allerdings auch allen Menschen ab 18 Jahren eine Auffrischungsimpfung an. „Fünf Monate nach der zweiten Dosis kann jeder eine Impfstelle aufsuchen“, verkündet der brasilianische Gesundheitsminister Marcelo Queiroga.
Nun blicken die Brasilianer verwundert nach Europa, das viel reicher ist und in dem sogar einer der wirksamsten Impfstoffe erfunden wurde. Dass Deutschland oder Österreich so schlecht dastehen, können sie nicht verstehen. Sie selbst sind optimistisch. In den nächsten Wochen kehrt der Karneval zurück auf die Straßen. „Die Menschen waren lange eingeschlossen in ihren eigenen vier Wänden. So etwas macht eben depressiv. Und der Karneval beendet die Depression der Menschen“, sagt Samba-Königin Savia David.
Entspannt ist die Lage auch in Schweden, das wegen seiner lockeren Corona-Regel von den Deutschen stets mit Misstrauen beobachtet worden ist In dem Land mit seinen rund 10,2 Millionen Einwohnern brauchen derzeit nur rund 30 Covid-19-Patienten intensivmedizinische Betreuung. Seit Sommer bleiben die Zahlen niedrig. An der Impfquote liegt es hier nicht. Sie ist mit knapp 69 Prozent kaum höher als in Deutschland. Allerdings ist auch in Schweden genauso wie in Brasilien die Zahl der Infizierten mit knapp zwölf Prozent knapp doppelt so hoch wie in Deutschland. Aufgrund des im Vergleich zu Brasilien besseren Gesundheitssystems sind deutlich weniger der Infizierten gestorben. Die sogenannte Letalitätsrate liegt bei 1,3 Prozent und damit deutlich niedriger als in Deutschland, wo sie 1,9 Prozent beträgt. Seit Ende September sind in Schweden alle Corona-Maßnahmen und Empfehlungen aufgehoben. In Clubs, Kinos, Bars und Restaurants darf jeder eintreten. Personendaten werden nicht erfasst, es gibt keine Abstände zwischen den Tischen – bisher ist das Vorzeigen eines Impfzertifikats nicht nötig. Angesichts der Quote ist keine 3G- oder gar 2G-Regel gefragt.
Die Beispiele sprechen dafür, dass die sogenannte „Herdenimmunität“ ein ausschlaggebender Faktor bei der Bewältigung der Krise ist. Der viel kritisierte schwedische Chefepidemiologe Anders Tegnell hält das allerdings für kein Konzept. „Herdenimmunität anzustreben, ist weder ethisch noch sonst wie vertretbar. Selbst wenn jüngere Menschen weniger schwere Verläufe haben und seltener sterben – es kann dennoch vorkommen“, sagte Tegnell in einem Interview. Er setzt aufs Impfen. „Wir müssen jetzt so viele Menschen impfen wie möglich. Vor allem die anfälligsten Teile der Bevölkerung. Das ist der einzige Weg, die Pandemie in den Griff zu bekommen. Alle anderen Maßnahmen helfen vielleicht ein bisschen. Aber den wirklichen Unterschied machen die Impfungen.”
Oliver Stock
22.11.2021 | 10:32