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Mein Impfstoff ist nicht dein Impfstoff

Der Corona-Impfstoff ist noch gar nicht entwickelt, da geht der Kampf um die Verteilung schon los. Ökonomen schlagen deswegen Alarm. Werde keine Lösung gefunden, drohten doppelt so viele Tote wie durch den ersten Weltkrieg.

Während Pharmaunternehmen mit Hochdruck an einem Impfstoff gegen Corona forschen, schlagen Ökonomen Alarm: Sie sprechen von einem sich abzeichnenden „Impfnationalismus“, der eine wirksame Bekämpfung von Corona verhindert. Wenn ein Impfstoff gefunden sei, verzögere die Bereitstellung für einige Menschen zwangsläufig den Zugang für andere. „Dieser Engpass verhindert, dass ein Impfstoff zu einem wirklich globalen öffentlichen Gut wird“, schreiben die Gesundheitsökonomen  Ökonomen Thomas J. Bollyky und Chad P. Bown in der jüngsten Ausgabe der angesehenen US-Zeitschrift „Foreign Affairs“ und sagen katastrophale Folgen voraus.

Die Autoren wagen die Prognose, dass ohne den wirksamen Einsatz eines Impfstoffes, die Corona-Pandemie bis Ende 2021 rund 40 Millionen Menschen töten und die weltweite Wirtschaftsleistung um 12,5 Billionen US-Dollar senken könnte. Die Pandemie hätte damit Auswirkungen, die die des ersten Weltkrieges um das Doppelte übertreffen. Zu verhindern sei die Katastrophe nur durch eine weltweite Zusammenarbeit. Tatsächlich sei aber das Gegenteil zu beobachten: Angesichts globaler Engpässe horteten zuerst China, dann Frankreich, Deutschland und die Europäische Union und schließlich die Vereinigten Staaten Vorräte an Beatmungsgeräten, Atemschutzmasken und Handschuhe für die eigenen Krankenhausangestellten. Insgesamt hätten mehr als 70 Länder sowie die Europäische Union in den ersten vier Monaten der Pandemie Exportkontrollen für die lokale Versorgung mit persönlicher Schutzausrüstung, Beatmungsgeräten oder Arzneimitteln eingeführt. Diese Gruppe umfasst die meisten Länder, in denen der mögliche Corona-Impfstoffe hergestellt werden kann, schreiben die Autoren.

Einer allein schafft es nicht

Dabei könne ein Land allein bei der Impfstoffherstellung und Verteilung keinen Erfolg für sich erringen, meinen die Gesundheitsökonomen und führen aus: Die Herstellung von Impfstoffen sei ein komplexer Prozess, bei dem selbst geringfügige Änderungen die Reinheit, Sicherheit oder Wirksamkeit des Endprodukts verändern können. Aus diesem Grund kontrollieren Aufsichtsbehörden nicht nur den fertigen Impfstoff, sondern jede Produktionsstufe. Das Verpacken in Fläschchen oder Spritzen geschehe unter höchsten Hygieneanforderungen. Ein paar Dutzend Unternehmen auf der ganzen Welt können diesen letzten Schritt ausführen. Und weit weniger können die qualitätskontrollierte Herstellung von Wirkstoffen bewältigen - insbesondere für neuere, hochentwickelte Impfstoffe. „Es ist unwahrscheinlich, dass ein Land, das das Glück hat, den ersten nachgewiesenen Impfstoff herzustellen, über alle erforderlichen Fähigkeiten verfügt, um die Produktion zu steigern und aufrechtzuerhalten“, schreiben die Autoren  Bollyky und Bown.

Bisher beteiligen sich an dem Wettlauf um die Impfstoffherstellung 164 Unternehmen und staatliche Forschungseinrichtungen vom Startup bis zum globalen Pharmakonzern. Die Schlacht um die Verteilung der rettenden Medizin hat dabei begonnen, bevor der Stoff, der die Welt von der Pandemie befreien soll, überhaupt gefunden ist. Sie zu gewinnen, ist für die wohlhabenden Länder aussichtsreicher als für die armen. Doch „niemand ist sicher, bevor nicht alle sicher sind“, beschreibt Seth Berkley die Situation. Berkley ist Chef von Gavi, einer halb öffentlich, halb privat finanzierten Gesellschaft, die es ursprünglich sich zur Aufgabe gemacht hatte, Kinder in den ärmeren Regionen der Welt mit Impfstoffen zu versorgen.

Globale Verteilung angestrebt

Seit seiner Gründung im Jahr 2000 hat Gavi nach eigenen Angaben dazu beigetragen, rund 760 Millionen Kinder zu impfen und damit die Kindersterblichkeit in 73 Entwicklungsländern zu halbieren. Gavi spielt bisher eine Schlüsselrolle bei der Verbesserung der globalen Gesundheitssicherheit, indem es globale Lagerbestände für Impfstoffe gegen Ebola, Cholera, Meningitis und Gelbfieber finanziert und will jetzt auch für eine gerechtere Verteilung von Corona-Impfstoffen sorgen.

Unter der Führung von Gavi haben sich deswegen die Coalition for Epidemic Preparedness Innovations (CEPI), die WHO, mehrere Regierungen sowie die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung zu einer Initiative zusammengefunden, die den Namen Covid-19 Vaccine Global Access (Covax) trägt. Ihr Ziel ist es, dass die teilnehmenden Länder über Covax Impfstoffe von Pharmaunternehmen kaufen. Damit soll sichergestellt werden, dass alle Mitgliedsstaaten proportional zur Bevölkerungsgröße gleichbehandelt werden – unabhängig von Zahlungskraft und Ort der Entwicklung des Impfstoffs. Mehr als 75 reichere Länder haben ihr Interesse am Finanzierungsmechanismus bekundet, 90 ärmere Länder sind dabei. Die großen EU-Mitgliedsstaaten werden in der Covax-Unterstützer-Liste allerdings genauso wenig genannt wie die USA, China oder Russland.

Die Großen machen nicht mit

Dass sich bedeutende Länder nicht unter den Unterstützern befinden, lässt auf weitere nationale Alleingänge schließen und macht das Eintreffen der Hiobsbotschaften, die Bollyky und Bown formulieren wahrscheinlicher. So vertraut Russland auf den eigenen, in wenigen Tagen einsatzfähigen, aber nicht zu Ende getesteten Impfstoff. Die Trump-Regierung hat mehr als zehn Milliarden Dollar in die „Operation Warp Speed“ gepumpt, die US-Pharmafirmen bei der Impfstoffentwicklung fördert. Das Ergebnis soll ausschließlich den USA zugutekommen. In diesem Sommer kauften die Vereinigten Staaten außerdem praktisch alle weltweiten Vorräte an Remdesivir auf, einem der ersten Medikamente, die nachweislich gegen Corona wirken. Deutschland, Frankreich, die Niederlande und Italien setzen dagegen auf eine eigene Allianz und haben beispielsweise mit dem Arzneimittel-Hersteller AstraZeneca bereits einen Exklusivvertrag geschlossen, um sich dessen Impfstoff zu sichern, sobald er auf den Markt kommt.

Der Impfstoff-Nationalismus ist damit bereits Realität. Das Szenario, dass sich abzeichnet, skizzieren die Gesundheitsökonomen so: Ärzte und Pflegekräfte, Milliarden älterer Menschen und andere gefährdete Einwohner in ärmeren Ländern bleiben ungeschützt, was die Pandemie verlängere, die Zahl der Todesopfer erhöhe und bereits fragile Gesundheitssysteme und Volkswirtschaften zum Umkippen bringen werde.

oli

03.08.2020 | 17:32

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