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Gesprengte Zukunft: Die Firmenzentrale von Nord Stream ist ausgestorben, wie es weiter geht, wissen auch die deutschen Anteilseigner nicht

Letztes Jahr war zehnjähriges Firmenjubiläum und Gerhard Schröder kam. Heute geht keiner mehr ans Telefon. Investoren und Betreiber der gesprengten Nord Stream Pipelines tauchen ab. Die Milliarden-Ruine auf dem Meeresgrund wird zum Tabuthema. Besuch am Firmensitz in der Schweiz.

Es ist kahl hier in der Industriestrasse in Zug, ein Bürokomplex schmiegt sich an den anderen. Firmen von Weltrang haben hier in der kleinen Schweizer Kantonshauptstadt ihren steuergünstigen Hauptsitz. Glencore zum Beispiel, der weltgrößte Energiehändler steuert von hier aus seine Minen von Australien bis Afrika. Vor einem leicht gewölbten Gebäude mit großer Glasfront hängt blau auf weißem Grund ein Firmenname, den derzeit jeder in Europa, und viele in Russland und den USA täglich in den Mund nehmen: Nord Stream.

Der Standort Zug hat nicht nur Steuervorteile: Nord Stream sollte sich in einem neutralen Land, außerhalb der an der Pipeline beteiligten Länder Russland, Deutschland, Frankreich und Niederlande ansiedeln. Gerhard Schröder war zuletzt im vergangenen Jahr hier, da feierte der Konzern sein zehnjähriges Bestehen und Schröder war Vorsitzender des Aktionärsausschusses. Nord Stream ist nicht zu verwechseln mit Nord Stream 2. Das Unternehmen ist insolvent, seit klar ist, dass die zweite Pipeline nicht in Betrieb gehen würde. Nummer eins allerdings gibt es noch und es steht auch auf keiner Sanktionsliste.

Nord Stream steht auf keiner Sanktionsliste

Das Unternehmen ist Bauherr und Betreiber jener Pipeline, die in der vergangenen Woche in die Luft geflogen ist. Wer in den Büros anruft oder an der Tür klingelt, landet entweder beim Anrufbeantworter oder wird abgewiesen. Die Ratlosigkeit ist spürbar. Offenbar weiß hier keiner, wie es weitergehen könnte, was auch für die fünf Unternehmen gilt, die als Investoren hinter Nord Stream stehen: Gazprom, Wintershall Dea, Eon über seine Tochterfirma PEG, NV Nederlandse Gasunie und der französischen ENGIE.

Ihren ersten Leitungsstrang nahmen die Zuger 2011 in Betrieb, der zweite folgte im Jahr 2012. Beide Pipeline-Stränge konnten zusammen jährlich bis zu 55 Milliarden Kubikmeter Gas transportieren – genug um den Energiebedarf von mehr als 26 Millionen europäischen Haushalten zu decken. Die Pipeline wurde für einen Betrieb von mindestens 50 Jahren konstruiert. Gehalten hat sie gute zehn Jahre.

Und nun? Wer versucht darüber mit den deutschen Teilhabern zu sprechen erhält schmallippige Antworten. Dass man bei Nord Stream in Zug mit dem geächteten russischen Konzern Gaszprom an einem Tisch sitzt, hatte Wintershall und die anderen Investoren sowieso schon nicht begeistert. Viel sei in den vergangenen Monaten im „Umlaufverfahren“ erledigt worden, heißt es. Persönliche Begegnungen am Konferenztisch haben die Beteiligten offenbar vermieden. Ist die Pipeline versichert? Wie geht es weiter? Auf Fragen dieser Art kommen keine Antworten. Von Eon gibt es ein schriftliches Statement, das an Belanglosigkeit keine Wünsche offen ässt: „Für den Betrieb der Nord Stream 1 ist die Betreibergesellschaft Nord Stream AG zuständig. Die möglichen Gründe für den Druckabfall bei Nord Stream 1 werden derzeit von der Betreibergesellschaft untersucht. Spekulationen zu möglichen Ursachen können wir nicht kommentieren.“

Vor der Explosion auf dem Meeresgrund hatten manche Reporter mehr Glück. Einem gelang es noch im August bei Nord Stream in Zug vorbeizuschauen. Die Schweizer Sonntagszeitung berichtete über den Besuch: Das Herzstück des Betriebs, das Main Control Centre (MCC), befinde sich im obersten Stock. Besucher müssten eine Erklärung unterzeichnen, dass sie die Informationen auf den Monitoren vertraulich behandelten, nicht ohne Erlaubnis fotografierten und sich im Notfall korrekt verhielten. Die Eingangstür sei videoüberwacht und lasse sich nur in Kombination mit einem Badge und einem Code öffnen. Anders als in den Büros herrschte hier Maskenpflicht, zum Schutz der Dispatcher, die wie Fluglotsen konzentriert die Systeme überwachen. Dispatcher, das sind hoch spezialisierte Fachkräfte – ein technisches Ingenieurstudium ist Pflicht, plus fünf Jahre Berufserfahrung. Die knapp 60 Angestellten in Zug kommen aus 13 Ländern. Die Firmensprache ist Englisch, obschon Russen überproportional vertreten sind. Rund um die Uhr seien immer mindestens zwei Dispatcher im Einsatz gewesen. Sie kontrollierten den Druck in der Röhre, die Temperatur, die Geschwindigkeit des Gasdurchlaufs, den physischen Lastfluss und vieles mehr. Von hier aus kam der erste Alarm, als die Pipelines leckschlugen.

Rund um die Uhr bewacht

Auf einem der Bildschirme seien alle größeren Schiffe angezeigt worden, die gerade über der Pipeline unterwegs waren. Bei anormalem Verhalten wie plötzlichen Richtungs- oder Geschwindigkeitsänderungen oder wenn ein Schiff vom Schirm verschwand, wurde Alarm ausgelöst. Ein Ankerwurf zum Beispiel könnte die Röhre beschädigen. Um die Ecke von der Adresse in der Industriestraße in Zug betreibt Nord Stream eine zweite Steuerzentrale, das Backup Control Centre (BCC). Fall es einen Cyberangriff gegeben hätte, wäre die gesamte Mannschaft ins Reservequartier gezogen.

Noch im vergangenen Monat herrschte im Hauptquartier Betrieb, wenn auch mit Einschränkungen: Den Angestellten sei empfohlen worden, das Gebäude vorsichtshalber durch den Hintereingang zu betreten, berichtet die Sonntagszeitung. Inzwischen ist auch das vorbei. Da, wo einst die Fahnen der Betreiberländer hingen, stehen nackte Masten. Es könnte sein, dass in Zug bald eine weitere Büroimmobilie auf den Markt kommt. Eine mit Historie.

Oliver Stock

05.10.2022 | 17:26

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