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„Ich brauche keine Antwort mehr vom Bundeskanzler“

Jens Marco Scherf ist grüner Landrat in Miltenberg in Unterfranken. Er fordert einen anderen Umgang mit Geflüchteten und hat auch nichts gegen Zäune an der EU-Außengrenze. Damit klingt er ganz anders als viele in seiner Partei. Warum er solche Forderungen stellt, und wie es ihm jetzt unter den Grünen ergeht, berichtet er im Interview.

Von Oliver Stock / WirtschaftsKurier

Herr Scherf, die Zahlen klingen nicht dramatisch: 130 000 Menschen leben in Ihrem Landkreis, im unterfränkischen Miltenberg. 3000 Geflüchtete sind darunter. Das muss doch machbar sein.

Meinen Sie? Dann sage ich ihnen, wie es wirklich aussieht: Woche für Woche komme 20 bis 30 Geflüchtete dazu. Wir haben 50 dezentrale Flüchtlingsunterkünfte im Landkreis. Die sind voll. Wir brauchen aber jede Woche ein oder zwei neue Unterkünfte. Wir brauchen ein bis zwei Häuser, die wir anmieten können. Wir finden aber keine mehr. Die Bereitschaft in den Gemeinden, weitere Geflüchtete aufzunehmen, nimmt rapide ab. Wir führen Einzelgespräche mit Bürgermeistern, gehen in jede Gemeinderatssitzung, wo uns dann gesagt wird, dass nicht nur kein Wohnraum da ist, sondern dass die Kindergärten voll sind und die Schulen auch. Wir können die Menschen, die zu uns kommen, einfach nicht mehr betreuen.

Und was passiert jetzt?

Wir schaffen Notunterkünfte. Bei uns ist das eine alte Schule, dort wohnen 60 Geflüchtete in vier Klassenzimmern. Aber der Widerstand in der Bevölkerung ist sehr groß. Eine Kündigung droht. Jetzt prüfen wir ob wir eine alte Gewerbehalle zur Notunterkunft herrichten.

Wie lange sollen die Menschen da wohnen?

So ein Asylverfahren dauert in Deutschland etwa ein Jahr. Die, die jetzt kommen, aus Syrien aus Afghanistan, haben eine hohe Bleibeperspektive.

Wo sollen sie hin, wenn ihr Asylstatus anerkannt ist?  

Eben. Da bricht alles zusammen, der Wohnraum ist einfach nicht da, und das absehbare Fiasko wird durch den Familiennachzug dann noch gesteigert. Der Ausspruch: Unser Herz ist groß, gilt auch für meinen Landkreis Miltenberg, aber wir überschreiten unsere Leistungsgrenzen.

Und was ist mit Turnhallen?

Wollen wir wirklich unseren Kindern nach drei Jahren Corona jetzt schon wieder die Turnhallen wegnehmen? Ich finde, da überschreiten wir eine rote Linie. Und noch einmal: Es geht nicht nur um die Unterbringung. Wir müssen auch integrieren. An unserer Berufsschule sind 1800 Schüler, davon 175 Geflüchtete. Wir haben keine Lehrer für noch mehr. In den Grund- und Mittelschulen unterrichten inzwischen viele Menschen, die überhaupt keine Lehrerausbildung haben. Klar, wir sind menschlich verpflichtet zu helfen, aber wir überfordern uns.

Was schlagen sie vor?

Wir brauchen eine völlig andere Flüchtlingshilfe. Das, was wir jetzt machen, ist unmenschlich und zynisch. Die Menschen legen einen Fluchtweg über tausende von Kilometern zurück, es gibt Schlepperbanden, Kriminalität, vielfältige Gefahren. Was meinen Sie, warum so wenig Alte, kaum Frauen und wenige Kinder ankommen? Es ist das Gegenteil von humanitärer Hilfe, was wir da machen. Im Sinne einer menschlichen Hilfe müssen wir den Zugang zu Europa verändern. Es muss möglich sein, nah an den Krisenregionen den Antrag aus Asyl zu stellen. Es muss möglich sein, die EU-Außengrenze zu schützen, wenn es hilft auch mit einem Zaun und mit legalen Zugängen. Das ist doch normal. Wir müssen doch wissen, wer zu uns einreist. Dazu müssen wir die Menschen an der Außengrenze registrieren und nicht erst, wenn sie hier sind. Wir leben in der EU von der Freizügigkeit, wir werden dieses hohe Gut nur aufrechterhalten, wenn wir die Außengrenzen unter Kontrolle haben.

Wenn Sie so etwas sagen, und Sie haben das ja auch schon im Fernsehen gesagt  – wie ist die Reaktion bei ihren Wählerinnen und Wählern, wie reagieren Kollegen, und was sagen sie in ihrer Partei, den Grünen, über Sie?


Aus der Bevölkerung habe ich mehrere 100 Zuschriften bekommen. Zu 98 Prozent enthalten sie Lob und Dank dafür, dass ich ein bestehendes Problem sachlich und differenziert dargelegt habe. Es gibt viel Anerkennung dafür. Auch auf Kollegenebene ergeht es mir so. Landräte und Bürgermeister sind froh, dass ich die Probleme so anspreche. Sie sind auch froh, dass ich als Grüner sachlich darüber rede. Ich stehe nicht automatisch in einer Anti-Flüchtlingsecke, weswegen man mir vielleicht eher zuhört.

Und wie ist die Reaktion in ihrer Partei?

Meine eigene Partei ist zweigeteilt: Bei denen, die kommunalpolitisch verankert sind oder die einen realistischen Blick auf die Probleme haben, herrscht große Unterstützung. Einem kleineren Teil meiner Partei, fällt es aber schwer, sich von ihrem geschönten Blick auf die Wirklichkeit zu verabschieden. Ganz vereinzelt erhalte ich Hinweise, ich solle doch aus Partei austreten, aber das ist nur eine Handvoll, die sagt: Schau, dass du rauskommst! Das kann ich aushalten.

Sind Sie eine Art Robin Hood?

Nein, das ist mir zu heldenhaft. Und ich bin auch nicht allein. Wir bayerischen Landräte befassen uns alle intensiv mit dem Thema. Und ich habe den anstrengenden Weg gewählt, allen zu erklären, worin das Problem besteht, um die Rahmenbedingungen für die notwendige Migration und funktionierende Hilfe für Menschen in Not zu schaffen.

Sie haben gemeinsam mit Kollegen dem Bundeskanzler geschrieben. Es kam aber keine Antwort . . .

. . . ich brauche jetzt auch keine Antwort mehr vom Bundeskanzler. Es gab ja diese Woche immerhin den Flüchtlingsgipfel. Und auch wenn da keine konkreten Ergebnisse verabschiedet wurden, so ist doch klar geworden, dass Bund und Länder sich nicht länger den Schwarzen Peter in der Flüchtlingsfrage zuschieben dürfen, sondern gemeinsam handeln müssen. Wir brauchen bis Ostern belastbare Lösungen.

17.02.2023 | 17:00

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