Coronamaßnahmen: Ja oder Nein? Die unterschiedlichen Meinungen sind nicht das Problem.



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Verteidigung oder Angriff?

Für den Umgang mit Corona stehen zwei Strategien zur Verfügung. Beide haben ihre Anhänger, die sich jedoch gegenseitig mit Vorwürfen überschütten. Dabei wollen beide das gleiche: Menschen retten und einen lebenswerten Alltag bewahren.

Auf der einen Seite gibt es die Bilder vom Wochenende: In Leipzig haben rund 20 000 Menschen gegen die Corona-Politik der Bundesregierung demonstriert. Dass sie dabei die „AHA“-Regeln außer Acht ließen, liegt auf der Hand: Wer gegen das Autofahren demonstrieren wollte, würde auch nicht im Autocorso anrücken. Auf der anderen Seite belegt eine Umfrage, die jetzt von seriösen Meinungsforschern veröffentlicht wurde, dass 84 Prozent der Deutschen die amtliche Corona-Politik unterstützen. 34 Prozent von ihnen halten sie sogar noch für zu lasch. Es sind Bilder gegen Zahlen, beide sind eindrucksvoll, beide belegen, dass auch durch dieses Land ein Riss geht. Sicher nicht querdurch, aber irgendwo abseits der Mitte setzt er an.

Es nennt sich Demokratie

Dabei sind nicht die unterschiedlichen Meinungen das Problem. Es nennt sich Demokratie, wenn über den richtigen Weg zum Ziel gerungen wird. Dies gilt insbesondere in einem Ernstfall, wie ihn die Welt derzeit durch die Pandemie erlebt. Es muss Verteidiger und Kritiker der Maßnahmen der Bundesregierung zur Eindämmung der Pandemie geben. Das Problem ist aber, wenn die einen den anderen die Berechtigung aberkennen, alles zu tun, um ihre Meinung mehrheitsfähig zu machen. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hat das getan, als er den Demonstranten „Leichtsinnigkeit und Hybris“ unterstellte. Und die Demonstranten tun dies, in dem sie sich nicht von denen distanzieren, die nur der Randale wegen mitlaufen, von denen, die Rechtsaußen-Parolen verbreiten, oder von denen, die mit irren Verschwörungstheorien ihrer Sache bereits deutlich mehr geschadet als genutzt haben.

Es geht um den richtigen Weg in einer sich zuspitzenden Lage. Knapp ein Jahr nach Ausbruch des Virus können wir zwei grundsätzliche Möglichkeiten ausmachen, sich der Pandemie zu erwehren: Die eine heißt Rückzug, Verteidigung und Warten auf die Wunderwaffe. Die andere besteht aus gezieltem Schutz und Angriff.

Die erste Variante ist die, die in Deutschland praktiziert und die von der Weltgesundheitsorganisation empfohlen wird. Die Übertragung des Virus kann durch physische Distanzierung, durch das Tragen von Gesichtsbedeckungen, durch Hände- und Atemhygiene sowie durch Vermeidung von Menschenansammlungen und schlecht belüfteten Räumen gemindert werden. Schnelle Tests, Kontaktverfolgung und Isolation sind ebenfalls entscheidend für die Steuerung der Übertragung. Die Strategie führt zu erheblichen Einschränkungen des Lebens, wie wir es gewohnt waren. Es treibt Menschen an den Rand des wirtschaftlichen Ruins und kann über mehrere Wellen hinweg von keiner Volkswirtschaft der Welt finanziert werden. Es fokussiert Mediziner auf die Bekämpfung eines einzigen Feindes und verhindert damit, dass auch andere Krankheiten rechtzeitig behandelt werden. Aber es hilft, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen und damit dem Gesundheitssystem eine Chance zu geben, tödliche Folgen, wo es geht, zu verhindern. Wenn ein wirksamer Impfstoff da ist, so die Hoffnung, lassen sich die Einschränkungen Schritt für Schritt aufheben.

Schnellere Immunität

Die andere Strategie heißt Schutz und Angriff. Sie beruht auf der Einsicht, dass die Gefahr, an Corona zu sterben, bei gebrechlichen Menschen ungleich höher ist als bei anderen. Sie vor allem müssen also geschützt werden: Durch Tests bei ihnen selbst und all denen, die sie besuchen, durch Verminderung der Kontakte und dadurch, dass sie selbst und diejenigen, die mit ihnen Kontakt haben, die ersten Impfstoffkandidaten sind. Für die anderen geht das Leben weiter mit Vorsicht, aber ohne massive Einschränkungen. Viele werden sich infizieren und eben dadurch oder durch eine rechtzeitige Impfung für eine gewisse Zeit gegen Corona immun werden. Die sogenannte Herdenimmunität würde früher erreicht, als bei der reinen Verteidigungsmethode, die am Ende allerdings auch auf dieses System setzt – nur mit dem Unterschied, dass die Immunität einzig einem Impfstoff zu verdanken sein soll. In dem Maße, wie sich die Immunität in der Bevölkerung aufbaut, sinkt das Infektionsrisiko für alle – auch für die gefährdeten Menschen.

Beide Systeme haben ihre Stärken und Schwächen. Die Schwäche des bisherigen deutschen Weges liegt in der Trägheit, mit der Erfolge erzielt werden können. Die lange Dauer dieser Therapie macht das System anfällig für Rückschläge, wie wir sie gerade mit der zweiten Welle erleben. Den anderen Weg haben Länder wie Schweden, ein Stück weit auch die Schweiz und die Niederlande gewählt. Eine Überlegenheit dieses Ansatzes hat sich dort bislang nicht gezeigt. Aber immerhin haben sie es geschafft, die Normalität nicht ganz aus ihrem Alltag zu verbannen und damit die Akzeptanz der Maßnahmen, die sein müssen, zu erhöhen. Das hat ihnen Demonstrationen von einer Wucht, wie sie in Leipzig zu spüren war, erspart.                                        

oli

 

 

09.11.2020 | 16:00

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