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Tschüss Gorbi

Der erste und letzte Präsident der Sowjetunion Michael Gorbatschow ist tot. In Westeuropa ein Held, in seinem eigenen Land in Ungnade gefallen, bleibt er für die Welt eine historische Figur. Und für mich ein Mensch, der mein Leben verändert hat. Ein persönlicher Nachruf.
 
Ohne ihn gäbe es Deutschland nicht. Ohne ihn hätte Europa heute ein anderes Gesicht. Und deswegen bewegt es mich, dass Michail Gorbatschow im hohen Alter von 91 Jahren gestorben ist. Ich steckte damals am 12. Juni 1987 in meinem Geschichtsstudium, als ich dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan in Berlin bei einer Kundgebung zuschaute. Er rief dem Führer der Sowjetunion über die Berliner Mauer hinweg zu: „Mr. Gorbatschow, tear down this wall.“ Margaret Thatcher, der Radio Moskau wegen ihrer Bemerkung zur „bolschewistischen Sowjetunion“ den Titel „Eiserne Lady“ verpasst hatte, nannte ihn später „charmant und humorvoll“. Für uns war er spätestens, seit er dem DDR-Führer Erich Honecker beim Bruderschaftskuss ins Ohr gehaucht hatte: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, einfach nur: „Gorbi“. Er hat mit seiner Haltung die Wiedervereinigung möglich gemacht und den eisernen Vorhang in Europa niedergerissen. Für mich ist er bis heute „Gorbi“ geblieben.
 
Natürlich weiß ich, dass sie das in Russland anders sehen. Und das ist für mich ein Beispiel, wie Perspektiven scheinbare Wahrheiten verändern: Für manchen Russen ist der Friedensnobelpreisträger Gorbatschow der Totengräber einer glanzvollen Zeit. Der Bestatter der Sowjetunion, deren Nachfolge-Staaten seither niemals wieder zur alten Größe zurückgefunden haben. Und auch diese Perspektive auf die Geschichte hat ihre Berechtigung, denn eine objektive Geschichtsschreibung gibt es nicht. Es ist genau die Denkweise, die Wladimir Putin jetzt bedient, wenn er den Ukraine-Krieg rechtfertigt. Putin war KGB-Agent in Berlin, als Gorbatschow an die Macht kam. Der Neue löste als fast noch junger Mann eine Führungsclique an der Spitze der Sowjetunion ab, die längst ins Seniorenheim gehört hätte. Er sprach von „Glasnost“ und „Perestroika“ und inspirierte eine bis dahin noch nicht weltbekannte Band aus meinem Heimatort Hannover, die „Scorpions“, zu dem Titel, der dann ein Welthit wurde: „winds of change“. Aus den Winden wurde ein Sturm, der Europa neu sortierte, aber die Sowjetunion eben verwüstete. Bis heute ist umstritten, ob Gorbatschow die Flucht nach vorne antrat, weil er einsah, dass die Sowjetunion unter tatkräftiger Mithilfe des Westens vor dem Zusammenbruch stand, oder ob er tatsächlich wollte, wie es das Komitee des Friedensnobelpreises später formulierte, „dass alte europäische Nationalstaaten ihre Freiheit wiedergewinnen“ konnten. Ob er tatsächlich daran glaubte, dass die Marktwirtschaft, zu der Meinungsfreiheit unteilbar dazu gehört, dem Kommunismus dauerhaft überlegen sei.
 
Ich habe die Fernsehbilder von Gorbatschow und Helmut Kohl in ihren Strickjacken vor Augen, wie sie irgendwo in den Weiten Russlands vor Gorbatschows Datscha auf roh behauenen Holzmöbeln sitzen und die Wiedervereinigung besiegeln. Das Bild hängt auch im Haus der Geschichte in Bonn, und ich gehe dort ab und an mit meinen Kindern vorbei. Ich erzähle ihnen dann die Szene und wahrscheinlich merken sie, dass ich Gänsehaut bekomme, und hören mir zuliebe aufmerksam zu.
 
In meiner Begeisterung für den letzten sowjetischen Führer und meiner Naivität gegenüber dem sowjetischen System hatte ich die Kräfte, die gegen ihn wirkten, unterschätzt. Der Kongress in Moskau wählte Gorbatschow, bis dahin Generalsekretär der kommunistischen Partei und als solcher mächtigster Mann im Staate, zwar noch zum ersten und letzten Präsidenten der Sowjetunion und der setzte an, die Rüstungsausgaben deutlich zu kürzen. Das aber lehnten die reaktionären Kräfte ab. Der bedrängte Präsident lenkte ein. Sein Vertrauter und Mitarchitekt der Neuordnung Europas, Außenminister Eduard Schewardnadse, trat im Dezember 1990 zurück. Er warnte vor „Faschismusgefahr“. Ich hatte mein Geschichts-Examen schon in der Tasche, als es im August 1991 zum Putsch gegen Gorbatschow kam, während der im Urlaub auf der Krim weilte. Der russische Präsident Boris Jelzin schwang sich auf die Panzer der Putschisten und rief zum Widerstand auf. Der Umsturz scheiterte, nur war Gorbatschow damit ein Präsident von Jelzins Gnaden. Konsequent trat er als ein im eigenen Land Gescheiterter am 25. Dezember 1991 zurück.
 
Michael Gorbatschow ist der Beweis, dass es in Russland Denker und Macher gibt, die die Werte, für die sich der Westen stark macht, schätzen. Ich denke daran, wenn ich das heutige Russland beobachte. Für mich ist er „Gorbi“ geblieben. Der Kosename half mir, die Distanz zu diesem lebenden Denkmal, zu dieser historischen Persönlichkeit zu überwinden. Er hat mein Leben verändert.

Oliver Stock

31.08.2022 | 12:07

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